Der Zwerg blieb ruhig. »Das bestreite ich nicht.«
»Nun, es ist eindeutig Tanis’ Pfeil«, beharrte Tyresian.
»Sicher«, räumte Flint ein. »Auch das bestreite ich nicht. Ich habe die Spitze sogar selbst hergestellt.«
Tyresian bedeckte Xenoth wieder mit dem Mantel und stand auf. »Ja, und Zwerg?« schimpfte er, während er sich über Flint aufbaute.
»Bei Reorx, benutzt doch Euer Hirn, Elf! Fällt Euch denn gar nichts auf an dem Pfeil?« Flint legte alle ihm mögliche Verachtung in diese Aussage.
Porthios gesellte sich zu Tyresian und untersuchte die Waffe. Schließlich äußerte der Erbe der Stimme vorsichtig: »Es ist ein perfekter Pfeil. Er hat Blutflecken, aber sonst nichts Besonderes.«
»Richtig«, nickte Flint.
»Also?« Tyresians Stimme bebte vor Herablassung. »Ihr habt zugegeben, daß es der Pfeil des Halbelfen ist. Also?«
Porthios gab einen leisen Laut von sich, woraufhin Flints Blick zum Sohn der Stimme wanderte, dessen Augen plötzlich Begreifen verrieten. »Ihr versteht, nicht wahr?« fragte Flint.
Porthios nickte und erklärte: »Wenn Tanis’ Pfeil Lord Xenoth vor dem Schwanz des Tylors getroffen hätte, dann wäre der Pfeil von dem Tier zermalmt worden. Wie Ihr sehen könnt, ist der Pfeil unversehrt.«
Die schmalen, blauen Augen des Anführers weiteten sich. Dann holte er mit einem Arm aus, wobei er beinahe Gilthanas gegen Miral gestoßen hätte. »Trotzdem hat sein Pfeil den Weg zu Xenoth gefunden. Was soll’s, wenn der Halbelf ihn nicht getötet hat. Tanis hat sich trotzdem eines schwerwiegenden Fehlers schuldig gemacht.«
Flint und Tyresian standen lange reglos da und lieferten sich ein Duell mit Blicken. Schließlich durchbrach Mirals Stimme den Baum. »Dieses ganze Gerede bringt den Körper unseres Mitstreiters nicht zurück nach Qualinost«, bemerkte er erschöpft. »Ich schlage vor, wir kehren unverzüglich zurück und tragen die Angelegenheit der Stimme vor.«
Tyresian sträubte sich. »Eine Frage habe ich noch«, sagte er. »Wer hat den Tylor getötet? Tanis?«
»Hat vielleicht der Zauberer das Vieh getötet?« murmelte Litanas. Mehrere andere Elfen nickten zustimmend. »Seht Euch doch seine Hand an. Selbst von der anderen Seite des Grabens haben wir den Blitzschlag aus seinen Fingern kommen sehen, der die Echse traf.«
Porthios schaute Miral an, der immer noch von Porthios’ jüngerem Bruder gestützt wurde. »Zeigt uns Eure Hand, Magier«, befahl Porthios.
Mirals Kapuze war nach hinten gerutscht und enthüllte sein blasses Gesicht, und der Magier kniff die Augen gegen das Licht zusammen. Behutsam zog er seine rechte Hand unter dem Mantel hervor. Der Ärmel hing in Fetzen. Von den ersten beiden Fingern fehlten die Nägel, und alle fünf Finger waren von der Spitze bis zur Handfläche schwarz. Tiefrote Streifen zogen sich vom Handgelenk des Magiers bis zu einer Narbe an seinem Ellbogen.
Diesmal war es Flints Stimme, die sich über die anderen erhob. »Ich wußte nicht, daß Ihr zu solcher Magie fähig seid, Miral.«
Der Magier wirkte verstört. »Ich auch nicht.« Er schien am Rand des Zusammenbruchs zu sein.
»Was ist geschehen?« fragte Porthios freundlich.
Der Zauberer sprach stammelnd, wobei auf seinen bleichen Wangenknochen jeweils ein roter Punkt sichtbar wurde. »Ich sah, wie das Untier Flint und Tanis bedrohte«, sagte Miral. »Ich bin kein großer Zauberer. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich keine Macht gegen so ein Tier. Ich bin nur mitgekommen, um Euch zu versorgen, falls jemand verletzt werden würde.
Als ich das Monster über Tanis stehen sah, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, noch einen geliebten Freund so gewaltsam enden zu sehen. Ich… ich dachte an Arelas, wenn Ihr es unbedingt wissen wollt, und plötzlich waren mein Pferd und ich bei Tanis und Flint auf der Lichtung, und… ich fühlte eine nie gekannte Kraft in mir.« Der Atem des Magiers ging flach, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich fühlte einen Ruck, als wäre ich aus großer Höhe abgestürzt, und meine Hand… tat weh. Dann bin ich auf dem Boden aufgewacht, als alles um mich herum so aussah.«
Eine Geste seiner linken Hand schloß den Berater, den toten Tylor und die blutige Lichtung mit den Blatt- und Rindenfetzen ein. Dann brach Miral zu Tode erschöpft auf dem Boden zusammen.
Die Jagdgesellschaft ritt langsam durch den Wald. Der Regen hielt sich immer noch zurück, doch die drohenden Wolken erregten die Gemüter, die von den Ereignissen auf der Lichtung bereits strapaziert waren. Xenoths Körper hatte man quer über Litanas’ Pferd gelegt. Litanas ritt auf Tyresians Anordnung hin mit Ulthen zusammen. Sein Pferd tänzelte nervös und verdrehte die Augen, weil es das Blut witterte.
Porthios und Gilthanas hielten sich nah bei Tanis und Flint. Obwohl die Elfenbrüder nichts sagten, war ihr Verhalten deutlich genug. Sie bewachten Tanis, bis sein Fall der Stimme vorgelegt werden konnte.
Miral war aus seiner Ohnmacht erwacht und ritt mit einem der Adligen auf einem Pferd, damit dieser den geschwächten Magier stützen konnte. Sein Pferd führten sie am Zügel hinter sich her.
Der Rückweg nach Qualinost zog sich endlos hin. Über ihnen dröhnte der Donner, und der Wind wurde stärker, ohne daß Regen die Spannung in der aufgeladenen Luft löste.
Als sie sich den Grenzen der Stadt näherten, trieb Gilthanas seinen Apfelschimmel an, um die Wachen von ihrem Kommen zu informieren. Der Sonnenturm ragte gespenstisch in den bleiernen Himmel auf. Bei ihrer Ankunft am südlichen Bogengang wurden sie von vier Wachen erwartet.
»Diese Wachen werden Tanis zu seinem Zimmer begleiten, wo er unter Aufsicht steht, bis wir mit der Stimme gesprochen haben«, sagte Gilthanas.
Flint protestierte. »Das heißt, der da«, und er zeigte auf Tyresian, »bekommt Gelegenheit, der Stimme seine Version der Geschichte zu erzählen, ohne daß Tanis dabei ist und sich verteidigen kann? Ist das elfische Gerechtigkeit?«
Porthios sagte: »Als Anführer der Expedition hat Lord Tyresian das Recht, der Stimme der Sonne Bericht zu erstatten.«
»Werdet Ihr auch dort sein?« fragte Flint Porthios.
»Natürlich. Genau wie Gilthanas. Und Miral, wenn er kräftig genug ist.«
»Dann komme ich auch mit«, erklärte der Zwerg. »Ich werde der Stimme die Sache aus Tanis’ Sicht erläutern.« Flint schob das Kinn vor und machte damit klar, daß ihn nichts davon abbringen würde.
Zwei Wachen in ihrer glänzend schwarzen Uniform begleiteten Tanis, der immer noch auf Belthar saß, durch die Straßen von Qualinost zum Palast. Das ernste Dreiergespann zog Blicke der Passanten auf sich, aber insgesamt schienen die Bewohner der Stadt nichts Besonderes daran zu finden, daß das Mündel der Stimme mit zwei Palastwachen unterwegs war.
»Aus dem Weg!« hörte Tanis Stunden später eine tiefe Stimme vor der Tür zu seinem Zimmer im Palast schelten. Der Halbelf, der aus dem Fenster in den Hof gestarrt hatte, drehte sich zu dem Lärm um.
»Wer da?« kam die Stimme der einen Wache, doch Tanis schüttelte den Kopf. Er kannte diese Stimme.
»Du weißt verdammt gut, wer da ist«, brüllte Flint. »Jetzt laß diesen Unsinn und laß mich durch. Ich will mit Tanis reden, und ich warne dich, leg dich nicht mit mir an.«
»Aber, Meister Feuerschmied, Tanis ist ein Gefangener«, erhob eine Wache Einspruch. »Er kann nicht – «
»Gefangener, Quatsch!« spuckte der Zwerg aus. »Ich komme auf Anordnung der Stimme der Sonne. Jetzt laß mich rein, oder, bei Reorx, ich werde…«
Tanis konnte sich den Ausdruck in den stahlblauen Augen des Zwergs in diesem Moment vorstellen. Dann klimperten Schlüssel. Die schwere Tür ging nach innen auf, und der Zwerg trat ein.
Zu Tanis’ Überraschung erschien der Zwerg in Begleitung von Miral. Die rechte Hand des Zauberers war dick verbunden und sein Gesicht so farblos wie seine Augen, doch er wirkte erfreut.
Die Wache machte die Tür zu und war offenbar froh, den Zwerg auf der anderen Seite zu wissen.