Flints grimmiges Gesicht konnte nicht verbergen, daß er ebenso erfreut war wie Miral. »Wir haben der Stimme alles erklärt«, sagte der Zwerg, der nicht Platz nahm. Er blieb lieber auf dem dicken, handgeknüpften Teppich stehen, der in Grün-, Braun- und Orangetönen eine Hirschjagd darstellte.
Miral ging zu einem mit Segeltuch bespannten Espenstuhl neben einem wenig benutzten Tisch, an dem Tanis gewöhnlich schrieb. Der Zauberer ließ sich auf dem Stuhl nieder. Tanis bot ihm Wasser aus einem Porzellankrug an, doch der Zauberer schüttelte müde den Kopf.
»Dein Freund da«, sagte Miral mit einem Nicken zu Flint, »hat der Stimme alles erzählt, was auf der Lichtung passiert ist – wie Xenoth meterweit von der Flugbahn beider Pfeile entfernt war, wie du geschossen hast, um den Berater zu beschützen, als das Untier angriff…«
»… und wie Miral auf die Lichtung geprescht kam, um seine Magie gegen den Tylor einzusetzen«, ergänzte Flint. »Es gab ein bißchen Streit darüber, wer das Tier getötet hat. Der Magier besteht darauf, daß es dein Pfeil war, der den Tylor getötet hat. Andere haben behauptet, daß es das Zauberfeuer war.«
Tanis konnte leicht erraten, wer diese »anderen« waren. Er lehnte sich aus Fensterbrett und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Jagdkleidung hatte er gegen ein weiches Lederhemd und eine enge Hose aus Hirschhaut getauscht.
Miral warf ein: »Tanis’ Pfeil steckte im Auge des Tiers. Ich habe bloß ein bißchen Rauch und Feuer erzeugt.«
Flint zog eine Augenbraue hoch. »Dein ›bißchen Rauch und Feuer‹ war erheblich mehr als bloße Ablenkung.« Er sah den Halbelfen an. »Was wichtiger ist, der Magier hat auch eine Erklärung für die merkwürdige Flugbahn deines Pfeils geliefert.«
Tanis blickte Miral wortlos an. Der Zauberer lächelte. »Tyloren sind zu starker Magie fähig. Ich bin das nicht, wie du weißt. Aber irgendwie konnte ich dort in der Lichtung einen Blitzschlag loslassen, der so stark war, daß er mich aus dem Sattel warf und das Tier vielleicht wirklich getötet hat.«
»Und?« fragte Tanis, der nicht recht wußte, worauf der Zauberer hinaus wollte.
Miral richtete sich etwas auf und machte eine Geste mit der linken Hand. Die verbundene Rechte lag auf der Armlehne des Stuhls. »Ich habe nur Mutmaßungen darüber angestellt, ob der Tylor in der Hitze des Gefechts vielleicht einen Spruch gesprochen hat, den ich irgendwie unbewußt zurückgeworfen habe, so daß er wieder das Tier traf.«
»Geht das?« Tanis’ Gesicht zeigte Zweifel.
Der Magier zuckte mit den Schultern und sackte wieder in sich zusammen. »Ich weiß nicht. Ist nur eine Vermutung. Aber wenn es so war – und ich weiß, das ist ein großes ›Wenn‹ –, könnte derselbe Ausbruch mächtiger Magie dann nicht auch den Pfeil von seiner Bahn abgelenkt haben?«
Tanis schaute den Zauberer fragend an. »Du willst sagen…«
Miral holte tief Luft. »Daß das mit Lord Xenoth ein Unfall war, für den du keinesfalls verantwortlich bist.« Er hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen. »Und daß du dich in Wahrheit angesichts des sicheren Todes ehrenhaft und tapfer verhalten hast, indem du Lord Xenoth retten wolltest.«
Flint stapfte zu Tanis’ Tisch und nahm sich eine Handvoll kandierter Mandeln aus einer abgedeckten Holzschale. »Die Stimme sagt, sie wird sich mit hochrangigen Zauberern beraten, um herauszufinden, ob das eine mögliche Erklärung ist«, fügte er hinzu. »Und damit bist du anscheinend entlastet. Die Wachen von deiner Tür werden abgezogen.«
Als die Spannung endlich nachließ, wurde Tanis klar, daß er in den letzten achtundvierzig Stunden nur vier Stunden Schlaf bekommen hatte. Er gähnte ausgiebig, und Zwerg und Magier grinsten.
»Junge, du siehst aus, als wärst du in zwei Tagen um zehn Jahre gealtert«, sagte Flint, dem die Ringe unter seinen eigenen geröteten Augen offenbar nicht bewußt waren.
»Das bin ich auch.«
Ohne weitere Worte verließen Zwerg und Elfenzauberer daraufhin den Raum. Der eine machte sich zu seinem Laden auf, der andere zu seinen Zimmern im Palast. Tanis ging zum Schrank, um sich auszuziehen. Er hatte gerade sein Lederhemd abgestreift, als er ein Klopfen an der Tür hörte. Da er glaubte, es wäre Flint, ging er zur Tür und öffnete, ohne sich irgend etwas überzuziehen.
Eine helle Stimme begrüßte ihn, und Laurana trat aus den Schatten des Korridors in sein Zimmer. Sie schien zu zögern, was ungewöhnlich für sie war, aber angesichts von Tanis’ leichter Bekleidung nicht überraschte. Nur eine einzige Lampe auf dem Tisch und das Mondlicht, das dahinter durchs Fenster fiel, erhellten das Zimmer. Das Lampenlicht ließ die Metallstreifen in ihrem langen Silberkleid glitzern. »Tanis.«
Er sagte nichts. Tanis hoffte, daß dieses Gespräch nicht lange dauern würde. Er war plötzlich so müde, daß er sich kaum noch auf die Elfenprinzessin konzentrieren konnte.
»Ich…« Sie brach ab und setzte neu an. »Vater hat mir von dem Gespräch zwischen dir und ihm heute morgen erzählt.« Sie ging an ihm vorbei und stellte sich auf den dicken Teppich, wo vor wenigen Augenblicken noch Flint gestanden hatte.
Tanis blieb kopfschüttelnd an der Tür stehen. Hatte er sich wirklich erst heute morgen im Privatzimmer der Stimme mit Solostaran im Turm getroffen? Wie dringend der Halbelf seinen Schlaf brauchte. Er taumelte und hielt sich am steinernen Türrahmen fest.
»Er hat gesagt, daß du mich nicht liebst«, fuhr Laurana fort. »Zumindest nicht so, wie ich es gehofft habe.« Sie reckte das Kinn in die Höhe, doch ihre Erregung zeigte sich in der Art, wie sie die Spitze des Ärmels an ihrem Handgelenk glattstrich.
Dieses Gespräch mußte ihr schwerfallen, dachte Tanis plötzlich. Er hoffte, er würde es so kurz und ehrlich wie möglich durchstehen können. »Du bist meine Schwester«, sagte er sanft.
»Das ist nicht wahr!« protestierte Laurana. »Nur weil wir im gleichen Haus aufgewachsen sind, stimmt das noch lange nicht. Ich kann dich lieben, und das tue ich.« Sie kam zu ihm und ergriff mit ihren schlanken Fingern seine Hand.
Tanis stöhnte innerlich, doch er wußte, daß Laurana recht hatte. Sie waren nur durch Heirat verwandt – und selbst diese Verbindung war zweifelhaft. Ganz sicher war sie nicht wirklich seine Schwester. Aber wollte er das überhaupt? Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an den goldenen Ring, der immer noch unten in seiner Lederbörse lag.
»Laurana, versteh doch bitte«, sagte Tanis matt. »Ich liebe dich wirklich. Aber ich liebe dich als – «
»– als Schwester?« brachte sie den Satz schneidend zu Ende und wich plötzlich zurück. »Das ist es, was du Vater heute morgen erzählt hast, nicht wahr? ›Ich liebe sie nur als meine Schwester‹.«
In der Stille der Zimmer konnte man nur ihr aufgeregtes Atmen hören. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme bitter.
»Ich war dämlich, nicht wahr? Ich will dich nicht länger belästigen, Tanis, mein Bruder. Ich sollte dir wirklich dankbar sein, daß du mir die Augen geöffnet hast.«
Ihr Gesicht war so kalt wie die Quarzwände des Zimmers, aber Tanis sah, wie sich Solinaris Licht in ihren Tränen spiegelte.
»Ich könnte lernen, dich zu hassen, Tanis!« schluchzte sie, um dann an ihm vorbei auf den Gang zu rauschen und Tanis stehen zu lassen. Bevor sie am Ende des Gangs verschwand, drehte sie sich noch einmal um. Ihre Stimme klang schon fast wieder ruhig. »Wirf den Ring weg, Tanthalas.« Dann war sie fort.
Tanis versetzte sich innerlich einen Tritt. Das hätte man bestimmt besser machen können. Kopfschüttelnd seufzte er und schloß die Tür.
19
Die Medaille
Die Wochen vergingen, ohne daß weitere Worte über den Streit bezüglich Lord Xenoths Tod verloren wurden. Zwei Tage nach seinem Tod wurde der verdiente Berater in aller Stille beerdigt. Um die Wahrheit zu sagen, vermißte kaum jemand am Hof den reizbaren Lord, und mehr als ein Elf atmete heimlich erleichtert auf, weil er sich keinen verbalen Schlagabtausch mehr mit ihm liefern mußte.