Er hatte keine Ahnung mehr, wo der Höhleneingang war. Er hatte keine Ahnung, wo Qualinost oder Mama waren.
Die Gegenwart rief ganz tief aus der Höhle. Der Ruf jedoch wurde von einem tosenden Summen begleitet, das den kleinen Miral ganz durcheinander brachte. Abwechselnd ängstigte und tröstete ihn das Geräusch.
Die Gegenwart wollte ihn. Sie würde ihn trösten.
Plötzlich wurde der Ruf dringlicher, als wäre die Gegenwart gleichzeitig ängstlich und wütend. Hier lang, kleiner Elf. Hier lang. Ich beschütze dich. Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du mich nur befreist. Hier lang.
In diesem Augenblick wußte Miral, wo es lang ging. Die Gegenwart verriet es ihm. Seine kräftigen Beinchen setzte sich in Gang und liefen einen Steinkorridor nach dem anderen hinunter. Er flitzte um eine letzte Ecke, denn er wußte, daß die Gegenwart ganz nah war, und…
Plötzlich blitzte Licht durch die neue Kammer, in der Miral sich wiederfand. Eine Weile konnte er nichts sehen. Die Gegenwart erschien ihm nicht mehr als das große Gute. Statt dessen war sie überwältigend böse.
Er wurde ganz heiser vor Schreien, brüllte nach seiner Mama und rannte im Kreis vor dem Summen davon, das die Höhle beben ließ, die plötzlich weder Eingänge noch Ausgänge hatte. In der Mitte der Höhle war die Quelle des Lärms, des Lichts, des Schreckens, das verstand er selbst in seiner kindlichen Unschuld. Da stand ein pulsierender Edelstein, der größer war als sein Kopf. Seine geschliffenen Seiten schossen graue und rote Strahlen in jede Vertiefung in den Felsen ab. Seine Augen taten weh, aber wenn er sie zumachte, blieben die Strahlen trotzdem nicht draußen. Wieder fing er an zu schluchzen.
Das graue Juwel wollte ihn. Seine Worte dröhnten in Mirals kleinem Kopf. Befrei mich. Laß mich frei, dann gebe ich dir alles, was du willst. Bilder von Spielzeug, von Mama, von Eld Ailea und von leckerem Essen tauchten nacheinander vor seinen Augen auf. Miral war heiß. Seine Stimme war rauh; er wollte etwas zu trinken.
Plötzlich hing vor ihm in der Luft eine Tasse mit süßem Wasser. Als er danach griff, verschwand sie. Diese Mischung aus Bekanntem und Unmöglichem ließ den kleinen Jungen aufheulen. Er entdeckte eine Spalte in der einen Wand und rannte hin, um sich hineinzuquetschen. Dann drückte er sich ganz weit hinein, während ihn von der Höhle aus jedes Monster bedrohte, vor dem er sich als Kind gefürchtet hatte.
Und dann kam der Teil, der immer kam – die starke Hand, die ihn tiefer in die Spalte riß.
Miral erwachte schweißgebadet.
21
Ein Mordversuch
Eine gute Woche später arbeitete Flint gerade an Porthios’ Kentommen-Medaille, als Lord Tyresian – natürlich ohne anzuklopfen, wie Flint registrierte – in das Steinhaus des Zwergs marschierte. Nur Tanis durfte den Laden unangekündigt betreten. Selbst Windsbraut klopfte auf ihre Weise, denn ihr Hufschlag warnte den Zwerg normalerweise früh genug, um zur Tür zu springen.
Nach der sengenden Hitze vor einer Woche hatte sich das Wetter abgekühlt. Heute war so ein Tag, an dem die meisten Leute in Qualinost Quith-Pa, Käse und süßsauer eingelegtes Gemüse in einen Picknickkorb packten und sich zu einem der Aussichtspunkte an den Flüssen aufmachten. Aber der Zwerg verschwendete keinen Gedanken an Erholung. Er hatte einen wichtigen Termin; bis zum Kentommen war nur noch eine Woche Zeit.
Wegen des bevorstehenden Festtags waren natürlich viele Adlige von Qualinost darauf gekommen, daß sie noch Aufträge hatten, die unbedingt noch vor Porthios’ Kentommen fertig werden mußten. Flint nahm die Aufträge an, gab aber allen dieselbe Antwort: Er arbeitete an einem Auftrag für die Stimme der Sonne und würde sich, leider, vielleicht erst nach dem Fest um die Anliegen seiner Auftraggeber kümmern können. Sie waren natürlich nicht glücklich, daß Flint Feuerschmied zwar unbestritten der geschickteste Schmiedekünstler im Umkreis war, aber auch so unbeugsam wie ein Minotaurus sein konnte.
Die beiden Scheiben für die Medaille lagen vor ihm, und er schlug mit einem feinen Meißel und einem Hämmerchen sorgfältig Öffnungen in die goldene Vorderseite. Kritisch betrachtete er das Ergebnis. Durch den Meißel bekamen die Öffnungen einen etwas rauhen Rand, der ihm gut gefiel. Besonders gut paßte er zu den Bäumen. »Ist auch gar nicht schlecht, weil ich doch keine Zeit mehr habe, es noch mal nachzubearbeiten«, murmelte er.
In diesem Moment ging die Tür auf, die Glocke bimmelte, und der hochmütige Elfenlord mit den kurzen, blonden Haaren trat herein.
»Zwerg, ich brauche Eure Dienste«, verkündete Tyresian.
Flint ließ sich die Zeit, die Einzelteile der Medaille mit der Skizze abzudecken, blickte von seinem Stuhl am Tisch auf und warf dem Elfenlord ein Lächeln zu, das mehr einem Zähnefletschen glich. »Tretet ein, Lord Tyresian.« Er zeigte mit dem Meißel auf die Steinbank. »Nehmt Platz.«
Gemäß Elfenprotokoll hätte Flint aufstehen müssen, als der Elfenlord den Raum betrat, doch Flint und Solostaran scherten sich, wenn die Stimme den Zwerg allein besuchte, längst nicht mehr um diese Formalität. Tyresian jedoch lief rot an vor Ärger. Daß der Elfenlord sich nicht über die Mißachtung beklagte, war für den Zwerg ein Beweis, daß Tyresian seine Dienste wirklich dringend brauchte. Das zauberte ein erneutes Lächeln auf Flints Gesicht.
»Was für einen Dienst braucht Ihr denn?« fragte Flint ausdruckslos, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Wieder zeigte er auf die Bank mit dem Meißel. »Nehmt Platz.«
Tyresian war sichtlich unsicher, ob er sich da hinsetzten sollte, wo der Zwerg es ihm gesagt hatte – und damit der Aufforderung eines Rangtieferen folgte –, oder ob er lieber stehenblieb, was bedeuten mochte, daß er, und nicht Flint, der Rangniedere war. Darum wanderte er rastlos durch den Raum, ohne lange genug irgendwo stehenzubleiben, um sich hinzusetzen. Nachdem er dreist durch den Raum gelaufen war, den Schrank, Flints Feldbett, die geschnitzte Truhe und die Schmiede begutachtet hatte, zog Tyresian sein Kurzschwert und reichte es dem Zwerg mit dem Griff nach vorn.
Wortlos nahm Flint die Waffe entgegen und untersuchte sie. Es war ein Schwert für Zeremonien, das bei offiziellen Anlässen getragen wurde, denn es war dicht mit Smaragden und Mondsteinen besetzt und hatte Stahlintarsien. Der Wert der Waffe hätte eine Familie aus Qualinesti acht Monate lang ernähren können.
»Nicht sehr praktisch im Kampf«, bemerkte Flint.
»Es ist für offizielle Anlässe«, sagte Tyresian herablassend.
»Wie das Kentommen von Porthios Kanan«, schloß der Zwerg. Der Elfenlord nickte.
Flint untersuchte die Waffe weiter. Das Holz des Hefts war gespalten. Ein Teil der Stahlintarsien war locker, und ein Edelstein – dem Abdruck nach tippte er auf einen Smaragd – fehlte. Das war keine einfache Reparatur; ein geschickter Handwerker mußte den Griff neu anfertigen und solange alles andere liegenlassen.
»Das würde eine Woche dauern«, sagte Flint schließlich. »Ich habe keine Zeit.«
Der Elfenlord wurde wütend, und seine blauen Augen blitzten, doch er hielt seine Stimme ebenso im Zaum wie der Zwerg. »Das Kentommen ist erst in einer Woche, Meister Feuerschmied.«
»Ich habe andere Arbeit.«
Tyresian richtete sich auf. »Dann legt sie zur Seite. Erledigt diesen Auftrag.«
Flint gab dem Elfenlord das Kurzschwert zurück. »Vielleicht findet Ihr einen anderen Schmied dafür.«
»Aber…«
In dem Moment traten Eld Ailea und Tanis ein und unterbrachen Lord Tyresians Erwiderung. Die alte Hebamme war wie üblich in grelle Farben gekleidet – gelb und blau gestreifte Bluse, roter, angekrauster Rock und rote Schuhe, alles mit blaßgelben Margeriten bestickt. Tanis wirkte ganz in Braun neben ihr praktisch farblos. Zwischen sich trugen sie – wegen des erheblichen Größenunterschieds zwischen der Hebamme und dem Halbelfen leicht schief – einen riesigen, geflochtenen Korb, der bis oben hin voll Maiskolben war. In der freien Hand hielt Tanis einen kleinen Teller, der mit einer umgedrehten Schale abgedeckt war. Sie blieben auf der Schwelle stehen und blinzelten aus der hellen Mittagssonne in den dämmrigen Laden des Zwergs.