»Schlaf dich aus!« rief ihm Flint nach. Der Magier winkte, ohne sich umzudrehen. Dann ging er weiter, während der Zwerg die Tür schloß.
Mirals kurzer Besuch half den dreien, die Lähmung zu überwinden, die sie nach Tyresians Abgang erfaßt hatte. Der Zwerg nahm sein Werkzeug vom Tisch, und anstatt Trübsal zu blasen, wurden Flint, Tanis und Eld Ailea fast wieder ausgelassen, als sie an den Maiskolben mit Butter knabberten. Zum Schluß reichten sie ein Küchentuch herum, um sich die Hände abzuwischen, und lehnten sich zufrieden zurück.
»Ah«, sagte Flint, »wie meine Mutter immer sagte: ›Der Weg zum Herzen eines Zwergs geht über seinen Teller.‹«
»Aha?« machte Tanis und stieß den Zwerg in die Seite. »Und was hat deine Mutter noch so alles gesagt?«
Flint lachte. »Sie hatte für jede Gelegenheit ein Sprichwort. ›Zu viele Köche verderben den Brei‹, sagte sie und befahl meinen dreizehn Geschwistern und mir, den Stall auszumisten. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich wußte, was dieses Sprichwort wirklich bedeutete. Für mich hat es sich immer wie ein Zwergengesetz angehört.«
Ailea lachte und wischte sich nacheinander ihre langen Finger an dem Tuch ab. »Was hat sie noch gesagt?«
Flint lehnte sich zurück. »Ich weiß noch, wie ich mich einmal beschwerte, weil mich eins von den Kindern in der Dorfschule piesackte. Sie hat mir den Kopf getätschelt und gesagt: ›Keine Sorge, Flinti. Ein fauler Apfel verdirbt nicht den ganzen Kessel Fisch.‹«
Flint sprach mit Fistelstimme, als er seine Mutter zitierte, und Tanis lächelte. Aber der Gesichtsausdruck des Halbelfen blieb nachdenklich. »Wie sieht sie aus?« fragte er. »Ist sie hübsch?« Eld Ailea warf einen weisen Blick auf den Halbelfen, dann auf den Zwerg, doch der schien nichts zu merken.
»Oh«, sagte Flint, »ich glaube, deine großen, schlanken Elfenfreunde würden sie nicht für hübsch halten, aber wir vierzehn Gören finden sie genau richtig. Klar, sie hat ein bißchen zugelegt…«
»Krieg du mal vierzehn Kinder, und dann schau, was mit deiner Figur passiert«, warf Ailea ein.
»… doch sie hat ein liebes Gesicht, und sie kocht einfach göttlich. Und zwar schöne, große Portionen.« Flint streichelte seinen vorstehenden Bauch. Dann wurde er rot, setzte sich gerade hin und versuchte, seinen Wanst einzuziehen. Ailea grinste breit.
»Wie ist denn dein Vater so?« fragte Tanis.
»Ach, Junge, mein Vater starb, als ich noch nicht erwachsen war. Schwaches Herz. Liegt bei den Feuerschmieds in der Familie, zumindest bei den Männern.«
»Deine arme Mutter«, sagte Ailea leise.
Flint nickte. »In den Jahren nach Papas Tod hat sie die Familie zusammengehalten. Meinen großen Bruder Aylmar hat sie in Papas Schmiede gestellt – und gelegentlich, bei leichteren Sachen, auch selbst dort gearbeitet.«
Ailea stand leise auf und legte die Eßteller in das siedendheiße Wasser, in dem sie den Mais gekocht hatten. Als Tanis die Augenbrauen hochzog, sagte sie lächelnd: »Wozu Wasser verschwenden? Da drin werden die Teller prima sauber.« Dann setzte sie sich wieder und winkte Flint zu, fortzufahren.
»Ich bin als zweiter zur Welt gekommen«, sagte der Zwerg träumerisch. »Nach Papas Tod übertrug Mama mir die Verantwortung für den Viehstall. Ich erinnere mich an einen Frühlingsmorgen in Hügelheim, wo ich aus dem Viehstall kam, um dem verdammten Käsegeruch zu entfliehen, und dann ließ ich meinen Blick über die Hügel und den Nadelwald um mich herum schweifen.« Er seufzte.
»Qualinost ist schön, Junge, aber Hügelheim auch. Trotzdem war es nur ein winzig kleines Dorf, das ich schließlich verlassen habe. Ich wollte etwas von der Welt sehen.«
»Ich würde es gern eines Tages besuchen«, sagte Tanis und hakte dann nach: »Und deine Mutter…?«
Flint runzelte nachdenklich die Stirn. »Oh, ich stand da in der offenen Stalltür, genoß die Sonne und das Wetter und die Bäume und die grünen Berge, als Mama herauskam und schimpfte«, – er sprach wieder mit Fistelstimme – »›Flint Feuerschmied, schlag bloß nicht die Stalltür zu, sobald der erste Vogel seinen Wurm hat!‹« Er kicherte in sich hinein. »Ich dachte mir, daß sie mich wohl wieder an die Arbeit schicken wollte.«
Er stand auf, reckte sich und ging zu dem kochenden Wasser, um mit seiner Eisenzange die Teller herauszuholen. »Einmal«, sagte er und wendete sich wieder seinen Gästen zu, »als meine kleine Schwester Fidelia sich darüber beklagte, wie arm wir wären und wie viel die Kinder des Bürgermeisters hätten, sah meine Mutter uns alle an und sagte: ›Oh, das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns.‹«
Eld Ailea und Tanis warteten auf die Pointe, aber Flint winkte mit der Zange und sagte: »Wir waren sprachlos. Wir konnten wirklich nichts sagen. Sie hatte einfach recht!«
Er machte eine Pause, wobei er immer noch die Zange festhielt. »Dann weiß ich noch, daß wir alle vierzehn anfingen zu lachen. Wir konnten nicht mehr aufhören. Ich weiß noch, wie Aylmar rücklings auf dem Steinboden lag, sich die Seiten hielt und kicherte, bis er keine Luft mehr bekam. Sogar mein Bruder Ruberik, der normalerweise so viel Humor hat wie ein Amboß, schnappte nach Luft, weil er so lachen mußte. Als wir zu uns kamen, merkten wir, daß Mama draußen in der Küche war, wo sie wütend vor sich hin brummelte und mit den Kesseln hantierte. Sie hat tagelang nicht mehr mit uns geredet. Und, was schlimmer war, sie hat nicht gekocht!«
»Was habt ihr gemacht?« fragte Ailea.
»Aylmar und ich haben uns in die Schmiede gestellt. Wir haben ein Schild für sie gemacht. Wir bogen dünne Eisenstäbe zu Worten und machten sie an einem Stück Scheunenholz fest. Dann haben wir es ihr über die Feuerstelle gehängt. Darauf stand…« Er fing plötzlich an zu glucksen. »Da stand…« Flint hustete und wischte sich die tränenden Augen.
»Da stand…?« bohrte Tanis nach.
»›Meiden bringt Leiden.‹«
Tanis grinste.
»Sie hat es geliebt«, sagte Flint. »Puh, sie hat es einfach geliebt.«
Die drei beschlossen, daß es trotz Flints drängendem Termin ein zu schöner Tag war, um im Haus zu bleiben. Darum packten sie die tragbaren Teile von Flints Werkzeug ein und wanderten zu den Bergen im Süden von Qualinost. Während die zwei Flüsse die Stadt von drei Seiten her schützten, lag im Süden ein bewaldeter Hang, der zu einem Grat aus malvenfarbenem Granit anstieg. Auf der gegenüberliegenden Seite fiel der Grat in einer schroffen Klippe tausend Fuß tief ab. Tanis überredete Flint zu dem Weg, der nicht allzu steil war, indem er ihm versicherte, daß man von oben einen fabelhaften Ausblick auf die Berge von Thorbardin hätte, die alte Heimat von Flints Volk.
»Ein bißchen Bewegung kann einem Zwerg nie schaden«, erwiderte Flint da und ging voraus. Deshalb war er der erste, der jenseits eines wogenden, grünen Bäumemeers die scharf gezackten Berge von Thorbardin erblickte, die fast wie dunkle Segelschiffe am Horizont aussahen.
Er fand ein bequemes Plätzchen am Fuß eines Baums, wo er mehrere Stunden damit verbrachte, die Intarsien in die Medaille einzusetzen, und beinahe damit fertig wurde. Tanis und Eld Ailea gingen inzwischen spazieren, unterhielten sich und sammelten Kräuter für die Duftöle und Tränke der Hebamme.
Einige Stunden später – die Dämmerung kroch bereits über die Stadt – ging Flint allein durch den Espenhain und die Obstbäume zu seinem Laden. Tanis begleitete die Hebamme nach Hause. Flints Haus war natürlich dunkel. Wegen der Sommerhitze und weil bei diesem Teil der Arbeit an der Medaille das Material kalt sein mußte, brannte schon seit Tagen kein Feuer mehr in der Esse.
Die Blüten der Winden an der Tür hatten sich angesichts der Dämmerung schon fest geschlossen, doch einer der jungen Rosenbüsche, die Flint neben die Veranda gepflanzt hatte, begann gerade zu blühen. Flint pflückte eine der blaßgelben Blüten und atmete ihren Duft ein. Dann seufzte er. Es war nicht gut, wenn man die kleinen Freuden des Lebens vergaß. Abgesehen von dem Zwischenfall mit Lord Tyresian war es ein schöner Tag gewesen.