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»Seht Ihr die beiden Flüsse?« fragte ihn Miral und zeigte auf die tiefen Schluchten im Osten und Westen der Stadt. Flint knurrte. Ob er sie sah? Bei Reorx, er hatte einen von ihnen überqueren müssen, und das auf einer schwankenden Brücke, die höchstens stark genug für eine Felstaube sein konnte, aber nicht für einen kräftigen Zwerg. Der Gedanke an diesen tiefen, felsigen, klaffenden Abgrund unter ihm ließ ihn immer noch erschauern.

»Der im Osten heißt Ithal-Enatha, Fluß der Tränen«, fuhr Miral mit leiser Stimme fort. »Der andere ist der Ithal-Inen, der Fluß der Hoffnung. Hinter dem Turm fließen sie zusammen nach Norden zum Weißen Fluß und dann unten in den See.«

»Komische Namen«, schnaubte Flint.

Miral nickte. »Sie sind sehr alt. Die Flüsse haben sie erhalten, nachdem Kith-Kanan und sein Volk im Wald von Qualinesti angekommen waren. Die Namen stehen für die Tränen, die während der Sippenmord-Kriege vergossen wurden, und für die Hoffnung auf die Zukunft, als die Kriege schließlich ein Ende gefunden hatten.«

Der Begleiter des Zwergs wurde still, und Flint war damit zufrieden, eine Weile an diesem stillen Ort zu verweilen und die Stadt zu betrachten. Schließlich war es Zeit zu gehen.

Miral begleitete Flint zum Palast der Stimme westlich des Sonnenturms, wo Flint seine vorläufige Bleibe gezeigt wurde: eine Suite von Zimmern mit hohen Decken und Marmorfußboden, die dreimal so groß waren wie sein Haus im fernen Solace. Der Magier erklärte ihm, daß er sich ganz nach Belieben ausruhen und erfrischen dürfe, und zeigte ihm dann die Tür, die in einen kleinen Raum führte, wo ihn ein Waschzuber mit nach Zimt duftendem Wasser erwartete. Dann blieb er allein zurück. Essen und Bier – aber kein Elfenblütenwein – sollten bald eintreffen.

»Ein Zwerg in Qualinost!« sagte Flint ein letztes Mal leise schnaubend zu sich selbst. Während er darüber nachgrübelte, daß der Elfengeschmack bezüglich Duft und Wein nicht gerade seinem eigenen entsprach, zog er Tunika und Hosen aus und tauchte in das würzig riechende Badewasser, um den Staub und Schmutz der Straße abzuspülen.

Als nicht lange darauf ein Elfendiener kam, fand er den Zwerg in eine rostrote Robe gehüllt und lautstark schnarchend auf dem Bett vor. Leise stellte der Diener das Tablett mit rotem Bier, Braten und gewürfelten Kartoffeln ab, blies die wenigen Kerzen aus, die den Raum erhellten, und überließ den Zwerg der Dunkelheit und seinen Träumen.

2

Hüte dich vor der Finsternis

Wenn der Erwachsene träumte, träumte er wie als Kind. Er träumte, er sei ein Kleinkind, das vor dem Eingang zu einem Tunnel stand. Der einst glatte Quarz, Marmor und Stein um den Eingang war jetzt von Alter und Vernachlässigung schmutzig. Ein kleiner Baum – keine Espe, keine Eiche, nichts, was der Junge in seinem kurzen Leben schon gesehen hatte – wuchs neben dem Höhleneingang aus dem Stein. Die Nase des Jungen zuckte bei dem Geruch nach feuchtem Stein und – blaue Augen wurden groß – dem Duft von Zimt! Zimt und Hagelzucker auf Quith-Pa – die Lieblingsleckerei des Jungen. Und nach einem Tag im Freien war er hungrig und müde.

Aus einem nahen Dickicht des Wäldchens, dem heiligen Hain in der Mitte von Qualinost, hörte er die Stimme seiner Mutter. Der Junge stand unentschlossen in der Öffnung des Tunnels und umklammerte ein Stofftier, einen Kodrachen, mit seiner dicken Hand. Gestern war die Höhle noch nicht dagewesen, dachte das Kind, aber heute war sie es. In einer Kinderwelt ist alles möglich, und dieses Kind hatte noch keine Angst kennengelernt.

Von drinnen lockte eine Gegenwart. Vielleicht würde die Gegenwart mit dem Kleinen spielen. Seine eigenen großen Brüder waren viel zu sehr mit Große-Brüder-Sachen beschäftigt. Die Mutter rief wieder, diesmal mit etwas ängstlicher Stimme.

Das Kind rang mit sich. War das »Das Spiel«, wo Baby sich versteckt und Mami es sucht? Gab es ein besseres Versteck als einen schönen Tunnel? Quarz, Marmor und Stein glänzten jetzt, als hätte eine magische Gegenwart sie von einem Augenblick auf den anderen poliert.

Die Mutter forderte den kleinen Jungen auf, aus seinem Versteck zu kommen. »Sofort, kleiner Elf. Sonst…«, warnte sie.

Damit war die Sache entschieden. Das Kind flitzte in die Höhle. Und in dem Moment, in der ersten unsicheren Pause im dunklen Tunnel, ging die Öffnung zu. Schlingpflanzen schossen aus der feuchten Erde hoch. Steine polterten und schlossen das Nachmittagslicht aus. Innerhalb von Sekunden war der Eingang verschwunden.

Der Kleine stand verunsichert vor dem Geröllhaufen, wo der Eingang zur Höhle gewesen war. Er wollte hinaus, aber es gab kein Hinaus mehr. Es gab kein Licht, keinen Zimtgeruch.

Es gab nur den Tunnel.

Der Mann erwachte wimmernd.

3

Flint lebt sich ein

A.C. 288, Spätsommer

Die Wochen nach der Ankunft in Qualinost waren für Flint mit Arbeit ausgefüllt. Heute marschierte der Schmied wie fast jeden Tag zum Sonnenturm, wo er nur wenige Augenblicke bei der Wache im kalten Korridor vor dem Arbeitszimmer der Stimme warten mußte, bevor der Elfenherrscher ihn hereinbat.

Selbst jetzt noch, nach Monaten in Qualinesti, sprach die stille Größe der Gemächer der Stimme Flints Seele unmittelbar an. Hügelzwerge fühlen sich der Natur ebenso verbunden wie Elfen. Durch die großen, durchsichtigen Wände – extravagante Glaswände – flutete Licht herein, so daß das baumbestandene Land außerhalb der Privatgemächer wie eine Erweiterung des Zimmers aussah. In den letzten Wochen hatten die Birnen und Pfirsiche schwer an den Zweigen gehangen, und die Äpfel waren rot geworden. Solostarans Zimmer waren nahezu schmucklos. Fensterbänke aus rosafarbenem Quarz hoben sich kräftig von den weißen, von grauen Adern durchzogenen Marmorwänden ab. Die Fackeln, die bei Tag wegen des einfallenden Lichts nicht benötigt wurden, ruhten kalt und schwarz in eisernen Wandhalterungen. An einer Seite des Zimmers stand ein Marmortisch; dahinter wartete in einem schweren Eichenstuhl die Stimme. Solostarans waldgrüner Umhang stellte den leuchtendsten Farbklecks in dem Raum dar, und seine natürliche Autorität zog die Aufmerksamkeit des Betrachters unwillkürlich auf sich.

»Meister Feuerschmied!« begrüßte ihn die Stimme, deren grüne Augen über den raubvogelartigen Gesichtszügen beim Aufstehen blitzten. »Tretet ein. Ihr seid wie immer eine willkommene Abwechslung von den Staatsgeschäften.« Er wies auf eine Silberschale, die mit kandierten Nüssen, getrockneten Aprikosen, Apfelschnitzen, Kirschen und anderem Obst gefüllt war, die ganz sicher von den Bäumen draußen stammten. »Bedient Euch, mein Freund.« Flint lehnte das Angebot ab, denn er mühte sich mit Pergamentbögen ab, die er nicht auf die schwarz-weißen Marmorfliesen auf dem Boden rutschen lassen wollte. Schließlich hatte er sie zusammengeschoben und legte sie der Stimme auf den Tisch, ohne die Knitterfalten des Papiers zu beachten. Wie üblich war Solostaran voller Bewunderung für die Holzkohlezeichnungen und suchte aus den vielen, die ihm gefielen, ein paar aus.

Die Stimme wirkte heute irgendwie abgelenkt, auch wenn er das Gespräch genauso freundlich führte wie immer. »Wie ich schon oft sagte, Meister Feuerschmied, Ihr seid ein begabter Künstler«, meinte er.