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Flint nickte.

»Die Leute aus der Stadt werden keinen der beiden Brüder beachten«, sagte Miral. »Das gehört zu den Grundsätzen des Kentommen.«

»Ich weiß«, erwiderte Flint. »Ailea hat es mir gesagt. Wo geht Porthios hin?«

Der Zauberer nahm den Faden wieder auf, wobei er einem Kind auswich, das eine silbergraue Fahne schwenkte. »Die drei Adligen führen ihn in einen Steinraum tief unter dem Palast. Es ist ein dunkler Raum, und er muß sich in einen kleinen Lichtkreis in der Mitte setzen.« Miral und Flint gingen an einem glitzernden Quarzhaus in Eichenform vorbei und bogen um eine Ecke.

»Die maskierten Adligen stehen im Dreieck um den jungen Mann«, erzählte Miral. »Sie sind die Ulathi, die Zeugen, und jeder trägt einen zeremoniellen Namen: Tolethra, der Ehrgeiz, Sestari, der Neid, und Kethyar, der Stolz. Jeder befragt den jungen Mann gnadenlos, beschuldigt ihn des selbstsüchtigem Ehrgeizes, des Neides auf wichtigere Andere und des dummen Stolzes. Durch ihren Zorn, ihr Schelten, ihren Spott und ihre Kritik prüfen sie die Stärke des Willens und die Reinheit der Seele, die der junge Mann im Hain errungen hat.«

Flint stellte sich die Szene vor und erschauerte. Da zog er seine Vollbarttage doch vor. »Wozu dieses Verhör – wie hieß das doch gleich?«

»Dieser Teil vom Kentommen heißt das Melethka-Nara, der ›Schatten im Herzen‹«, sagte Miral. »Wie der Name verrät, geht es darum, zu sehen, ob noch ein Schatten über dem Herzen des jungen Elfen liegt. Wenn ja, dann wird er sich einschüchtern lassen, wütend werden oder über ihren Worten verzweifeln. Wer schreit, weint oder auch nur zusammenzuckt, hat bei diesem Test versagt. Wenn der junge Elf jedoch am Ende des Verhörs immer noch ruhig und mit sich selbst im reinen ist, dann nicken die Ulathi einfach, verlassen den Raum und lassen die Tür offen.«

Plötzlich wußte der Zwerg, wo die Stimme jene undurchdringliche Maske entwickelt hatte, die bei Aufregung über ihr Gesicht fiel. Er fragte sich, wie sich Porthios und dann auch Tyresian durch das Kentommen verändern würden.

Sie hatten Flints Laden erreicht, doch von Tanis war keine Spur zu sehen. Flint war glücklich, sich ein paar Minuten auf seiner geliebten Steinbank ausruhen zu können – auch wenn er das nie zugegeben hätte –, und bat Miral herein. Der war einverstanden, und bald teilten sich die beiden eine Tüte geröstetes und gesalzenes Quith-Pa, die der Zwerg auf dem Rückweg von der Prozession erstanden hatte. Flint hatte einen Krug Bier in der Hand; der Magier trank Wasser.

»Und wie geht es dir, mein Freund?« fragte Miral. »Hast du etwas darüber herausbekommen, wer diese gemeine Falle aufgestellt hat?«

Flint schüttelte den Kopf als Antwort auf die zweite Frage, erwiderte jedoch auf die erste, daß er so gesund wie jeder nur halb so alte Zwerg sei. »Tanis und Eld Ailea haben sich bestens um mich gekümmert. Sie haben mir lauter gesunde Sachen zu essen und zu trinken gegeben. Das war scheußlich«, fügte er maulend hinzu.

»Und hat der Trank, den ich hiergelassen habe, gewirkt?« erkundigte sich Miral. »Ich hatte mich gefragt, wie du damit klar kommst, wenn du stündlich eine Tasse Tee trinken mußt.«

»Tee?« Der Zwerg sah verwirrt aus. »Nein. Ailea hat mir so viel kaltes Wasser und Milch verabreicht, daß ich richtig am Schwimmen war – sie hat behauptet, das wäre gut gegen Wundfieber –, aber Tee habe ich nicht bekommen. Außer wenn sie ihn ins Wasser gemischt hat. Würde ich ihr glatt zutrauen.«

»Nein, diesen Tee hätte man warm trinken müssen«, sagte der Zauberer. »Nun gut. Vielleicht habe ich vergessen, die Kräuter hierzulassen. Ich habe in letzter Zeit so viel um die Ohren, daß ich nie genau weiß, ob ich etwas wirklich getan habe oder nur daran gedacht habe.«

Plötzlich hörte Flint leichte Schritte auf dem Weg zu seiner Tür. »Das wird Tanis sein«, sagte er.

Aber es war ein Elfenkind in Flints Größe mit weizenblondem Haar und meerblauen Augen. Das Mädchen platzte gleich los: »Das ist von Eld Ailea. Für Flint Feuerschmied oder Tanthalas, den Halbelfen.« Damit warf sie Flint ein gefaltetes Stück Pergament zu.

Das Kind stand vor Flint und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während der Zwerg das Papier auffaltete und auf die Nachricht sah. »Flint, Tanthalas«, las der Zwerg laut vor. »Kommt sofort her. Ich weiß, was mit Xenoth war. Ailea.«

Er sah auf. »Was auf Krynn…?« Flint starrte das Elfenkind leer an, um es dann plötzlich wahrzunehmen. »Was willst du, Mädchen?« grollte er.

»Eld Ailea hat gesagt, du würdest mir ein Spielzeug geben, wenn ich die Nachricht überbringe und den ganzen Weg renne.« Das Kind keuchte immer noch. »Das war ganz schön anstrengend. Die Parade kommt gerade zurück. Draußen ist alles voller Leute!« Sie klang trotzig.

Flint zeigte auf den Schrank. »Da drin. Such dir was aus. Welchen Eindruck hat denn Ailea gemacht, als du sie verlassen hast, Kleine?«

Das Kind hatte schon die Schranktür geöffnet und wühlte gierig in den Sachen. Dem Zwerg erwiderte sie beiläufig: »Aufgeregt. Sie hat die ganze Zeit gesagt: ›Jetzt ist mir alles klar. Narbe. T. Erbe. Jetzt verstehe ich.‹ Und sie hat mich richtig aus der Tür geschubst.« Das Kind hörte sich beleidigt an.

Flint sah verwirrt aus. Er blickte von Miral zu dem Hinterkopf des Kindes, das die Spielsachen durchsah.

»Narbe. ›T‹«, überlegte Flint. »Erbe?«

»Ich kenne keine Elfen mit T-förmiger Narbe«, sagte der Magier und schob die Tüte mit gesalzenem Quith-Pa beiseite. »Außer vielleicht Tyresian.«

Flint setzte sich aufgeregt auf. »Das ist es! Tyresians Arme sind voller Narben von den jahrelangen Übungskämpfen. Ailea muß irgend etwas über ihn herausbekommen haben, was mit Lord Xenoths Tod zu tun hat.« Er stieß sich von der Bank hoch und eilte zur Tür. »Komm, wir müssen uns beeilen«, rief er Miral zu. Dem kleinen Mädchen sagte er: »Nimm dir, was du willst!«

Der Magier war direkt hinter ihm, als Flint auf die Straße rannte und sich durch die feiernden Elfen kämpfte, die jetzt wieder die Straßen verstopften, nachdem sie Porthios im Hain abgeliefert hatten.

Das Mädchen blieb bis zum Bauch in Spielsachen glücklich in Flints Laden sitzen.

Ailea lief ungeduldig im Haus herum, und gelegentlich schlug sie mit der kleinen Faust in die Handfläche der anderen Hand – eine männliche Geste, die bei einer Elfenfrau ungewöhnlich aussah, aber sie war entsetzlich aufgeregt.

»Das muß es sein!« flüsterte sie sich selbst zu. »Natürlich!« Am Kamin machte sie kehrt und ging wieder zur Haustür. Erneut spähte sie auf die Straße hinaus. »Wo stecken sie bloß?« schimpfte sie. »Hat Fiona sie inzwischen wohl gefunden? Ich hoffe bloß, das Kind hat sich nicht verlaufen…«

Sie hörte hinten im Haus etwas knacken und machte die Haustür wieder zu. »Flint? Tanthalas?« rief sie mit fast katzenhaftem Gesichtsausdruck. Sie eilte wieder durch das Empfangszimmer, dann am Kamin vorbei. An der Schwelle zur Küche blieb sie stehen. »Wer…?«

Die Gestalt drehte sich um, und Eld Ailea erstarrte. In all den Jahrhunderten hatte sie sich noch nie so gefürchtet. Mit feuchten Händen und kurzen Atemzügen wich sie blindlings zurück und warf dabei einen kleinen Tisch um. Drei Babyporträts und einer von Flints Schaukelvögeln fielen auf den Boden.

Die Gestalt folgte ihr ins Empfangszimmer. Ailea wollte schreien.

Doch sie brachte keinen Ton mehr heraus, sondern brach still auf dem Boden zusammen.

Dann war die Gestalt verschwunden.

Als Tanis von der Prozession wegging, nahm er die einsamsten Straßen, die er finden konnte – was nicht schwierig war, denn die meisten Bewohner von Qualinost folgten Porthios und der Stimme zum Hain. Er lief eine halbe Stunde umher, bis ihn der Ruf eines Straßenhändlers daran erinnerte, daß er Flint versprochen hatte, ihn im Laden zu treffen.