Kurz darauf kam er dort an, fand jedoch nur ein blondes Elfenkind vor, das glücklich auf dem Boden mit verschiedenen Holzspielsachen beschäftigt war. Es stellte sich als Fiona vor, zeigte Eld Aileas Nachricht, die noch auf der Bank lag, und verkündete stolz, daß der Zwerg ihr das ganze Spielzeug geschenkt hätte.
Tanis las die Nachricht und war schon aus der Tür gerannt, bevor das Mädchen den Satz zu Ende gebracht hatte.
Später würde er sich kaum noch daran erinnern können, wie er eigentlich so schnell von Flints Laden zu Eld Aileas Haus gekommen war. Überall sangen, tanzten und lachten die Qualinesti. Einmal sah er Flint Feuerschmied kurz allein an einer Straßenecke stehen und suchend um sich blicken, als wenn er jemanden verloren hätte, doch als die Menge den Blick wieder freigab, war der Zwerg verschwunden. Der Halbelf eilte weiter.
Die Tür des rosa-grauen Hauses war nicht verriegelt, doch das war nichts Ungewöhnliches. Die Qualinesti verschlossen ihre Türen selten; es gab nur wenige Verbrechen in Qualinost, kein Elf mußte sich fürchten. Tanis klopfte, erst zögernd, dann fester, weil die übliche Antwort der Hebamme: »Komme, komme, komme«, nicht zu hören war. Er rief zum Fenster im ersten Stock hoch, doch es kam keine Antwort.
Eine Nachbarin streckte den Kopf aus ihrer Tür und sah den Halbelfen, der heftig gegen die Tür schlug, verwundert an. »Ailea muß zu Hause sein«, rief die Elfenfrau. »Ich habe sie vor kaum fünf Minuten am Fenster gesehen.«
Schließlich machte Tanis die Tür auf und trat ein. Noch bevor sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wußte er, daß etwas nicht stimmte. Er hatte erwartet, daß eine aufgeregte Hebamme von hinten angerannt käme, um ihm zu sagen, wie sie das Rätsel um Xenoths Tod gelöst hatte.
Statt dessen roch er Tod. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Die alte Hebamme lag vor dem Kamin auf dem Rücken – in ihrem eigenen Blut. Ihre runden Augen, die Menschenaugen, für die sie sich nie geschämt hatte, starrten blicklos an die Deckenbalken. Dutzende von Miniaturen lagen im Raum verteilt. Tanis konnte erkennen, daß sie sich nach dem tödlichen Treffer noch bewegt hatte; eine breite Blutspur zog sich von der Tür bis zu dem Teppich vor dem Kamin. Einen Ärmel hatte sie bis zum Ellbogen hochgezogen, und ihr fliederfarbener Rock war etwas verrutscht, wodurch er ein schlankes Bein bis zum Knie enthüllte. In der anderen Hand hielt Ailea das Porträt von zwei Elfenkindern.
Tanis konnte nicht einmal aufschreien. Er kniete sich neben den zierlichen Körper der Elfin, ohne auf das Blut zu achten, das seine Hosen und Mokassins durchtränkte. Aileas Rock war voller Blut. Er merkte, daß er vergeblich versuchte, es abzuwischen, und es dabei nur noch mehr verschmierte. Er berührte ihr Gesicht in der Hoffnung, ihren Atem an seiner Hand zu spüren. Das Fleisch der Elfin war zwar noch warm, jedoch totenstill.
Seine Finger waren ganz rot. Als er sich auf die Hacken zurücksetzte, zog sich sein Herz vor Trauer und Wut zusammen.
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß schon seit einer Weile jemand an die Haustür hämmerte. In diesem Moment flog die Tür hinter ihm auf. Tanis fuhr herum.
»Großer Reorx!« schrie Flint, und dann: »Ailea!«
Auf halbem Weg zu Aileas Haus war Flint in den Strom von Elfen geraten und hatte Miral aus den Augen verloren. Da er jedoch fand, daß ein Elf, der mit den anderen Elfen auf Augenhöhe war, bessere Chancen hatte, sich durch die Menge zu kämpfen, als ein Hügelzwerg, hatte Flint sich nicht weiter darum gekümmert.
Miral holte den Zwerg an der Schwelle zu Aileas Haus ein, als Flint zum ersten Mal klopfte. Der Magier wirkte ausgepumpt.
Flint beachtete ihn nicht. Statt dessen begann er, gegen die Tür zu hämmern. Schließlich riß er sie auf, sah Tanis’ tränenüberströmtes Gesicht zu ihm aufschauen und schrie auf, als er den Anblick hinter dem Halbelfen sah.
Und dann hatte Flint den Blick gehoben und die Worte entdeckt, die auf dem Kaminsims geschrieben standen. Sie wurden schon braun, weil die Flüssigkeit trocknete. »Ailea«, stand da, »es tut mir leid.«
»Begreife, welches Urteil ich fällen muß«, sagte später die Stimme vom Podium des Sonnenturms aus. Hunderte von Elfen, die durch das Kentommen angelockt worden waren, standen an der Tür, auch wenn in den zentralen Raum selbst nur Adlige eingelassen wurden, wenn die Stimme Hof hielt. Im Hintergrund wurde ununterbrochen gemurmelt.
»Seit den Sippenmord-Kriegen hat kein Elf mehr das Blut eines Elfen vergossen, Tanthalas«, sagte Solostaran, »und wir betrauern nicht nur das Dahinscheiden einer langjährigen, treuen Dienerin des Hofes, wir trauern auch um den Verlust des Friedens, der in dieser Stadt so lange geherrscht hat.
Doch bevor wir trauern können, muß der, der diesen Schatten über uns gelegt hat, sich dafür verantworten. Darum stehst du vor mir, Tanthalas Halbelf. Du bist des Mordes an Eld Ailea, der Hebamme, angeklagt.«
Litanas murmelte von seinem neuen Platz rechts vom Podium: »Wahrscheinlich hat er auch Lord Xenoth umgebracht.«
»In dieser Tat und in meiner Weisheit«, erklärte Solostaran, »erkläre ich dich für schuldig.«
Tanis, der immer noch die blutbefleckten Kleider trug, die er bei seiner Festnahme durch die Palastwache in Aileas Haus angehabt hatte, zuckte zusammen, blieb jedoch stehen. Er hörte ein leises Murren hinter sich und wußte, daß das Flint war.
»Darum verkünde ich, daß du, Tanthalas, der Halbelf, vom ganzen Land der Qualinesti verbannt sein sollst, und daß die Bewohner dieses Landes dich ächten sollen, als hätte es dich nie gegeben. Andernfalls droht ihnen dieselbe Strafe.«
Tanis schwirrte der Kopf. Der Tod wäre leichter, dachte er. Der Gedanke, Qualinost zu verlassen, verursachte Tanis die gleichen Schmerzen, als wenn man ihm ein Messer ins Herz gestoßen hätte. Bei all seiner Sehnsucht, Krynn zu bereisen, hatte er immer geglaubt, er könnte jederzeit nach Qualinost zurück.
Tyresians Miene zeigte grimmigen Triumph bei den Worten der Stimme.
»Tanthalas, nimmst du dieses Urteil an?« fragte Solostaran.
Tanis machte den Mund auf, um zu antworten, ohne daß er wußte, was er sagen würde, doch plötzlich stolperte eine der Wachen neben ihm, und Tanis sah überrascht, wie Flint wütend nach vorne stapfte und sich vors Podium stellte. »Ich weiß nicht, ob er es annimmt oder nicht«, entrüstete sich Flint mit den Händen auf den Hüften, aber traurigen Augen. »Aber, bei Reorx, ich weiß, daß ich nicht einverstanden bin!«
Alle, die ums Podium versammelt waren, starrten den Zwerg sprachlos an.
Flint war sich all der mandelförmigen Augenpaare bewußt, die ihn jetzt anstarrten, besonders dessen der Stimme. Jetzt schmeißen sie mich aus der Stadt, dachte Flint, und dann kann ich dem Halbelfen überhaupt nicht mehr helfen. Plötzlich dachte er an Ailea und merkte, daß er – wenn Tanis verbannt war und die Hebamme tot – wenig Grund hatte, in Qualinost zu bleiben.
Er schüttelte den Kopf und ordnete seine Gedanken. Gewiß würde Ailea es verstehen, wenn er jetzt alle seine Kraft brauchte, um Tanthalas, ihren Liebling, zu verteidigen. Flint würde die alte Hebamme später, im stillen, betrauern.
Aber jetzt brauchte ihn Tanis. »Seht doch, Stimme«, begann Flint mit rauher Stimme, bevor Solostaran noch irgend etwas sagen konnte. »Ihr habt anscheinend auf alles gehört, was diese Elfenlords Euch über den Vorfall erzählt haben – zumindest, was deren Meinung nach passiert ist. Es gibt keine Augenzeugen – gar keine Zeugen, bedenkt das. Aber sie haben bei dieser schlimmen Tat schnell mit dem Finger auf Tanis gezeigt«, fuhr Flint fort. »Ich denke an andere, die genauso, nein, viel mehr unter Verdacht stehen als der Halbelf, der zu Ailea in den letzten Wochen eine innige Beziehung entwickelt hat.«
»Innige Beziehung!« schnaubte Tyresian. »Theater!«
»Und Ihr, Lord Tyresian, gehört zu meinen Hauptverdächtigen!« bellte Flint und zeigte auf den Elfenlord.
»Unmöglich«, gab Tyresian zurück. »Ich habe mit anderen für Porthios am Hain Wache gestanden, als die alte Frau umgebracht wurde.«