In der Mitte des Raums stand ein großes Federbett mit lilagrüner Überdecke, während in einem Alkoven neben dem Kamin ein kleineres Lager eingerichtet war. Vor der Feuerstelle stand ein alter, hölzerner Schaukelstuhl, der zwar abgestoßen war und Kerben aufwies, aber trotzdem glänzend poliert war. Der Zwerg ging zu dem Alkoven und sah oben und unten an der Matratze Lampen stehen, Handtücher und Lappen auf einem Nachttisch. Ein Wiegenkorb hing von einem langen Eisenhaken herunter, der tief in die Decke gebohrt war. Flint wurde klar, daß dies der Alkoven war, in dem so viele Elfenfrauen zur Geburt gekommen waren.
Stunden später, als die Schatten des Spätnachmittags bereits länger wurden, hatte Flint Aileas private Aufzeichnungen durchgesehen. Er suchte nach Indizien, fühlte sich aber wie ein Dieb. Die meisten Pergamente bezogen sich auf Geburten oder auf Kräuterheilmittel, die bei bestimmten Leiden Erfolg gezeigt hatten. Die Durchsuchung der Kommode mit den acht Schubladen neben dem Federbett hatte, soweit er sehen konnte, nichts erbracht, was sich irgendwie mit dem Verbrechen in Verbindung bringen ließ.
Dann bemerkte Flint das Bild in dem hübschen Rahmen aus Gold und Silber, das auf der Kommode stand. Die Seiten des Rahmens waren glänzend abgerieben, als ob die Besitzerin oft hier gestanden und das Bild gehalten hätte. Er berührte es mit seinem dicken Finger. Die Farbe war verblichen und alt – älter als er selbst, das war offensichtlich. Es zeigte eine junge, zierliche Elfin mit grünbraunen, runden Augen und einem Katzengesicht neben einem älteren Menschenmann mit eckigem Gesicht und Kleidern, die ihn als Bauern auswiesen. Ein kleines, sauberes Haus mit weißen Petunien am Weg zum Eingang stand im Hintergrund. Die beiden Leute hielten sich an den Händen, und ihr Gesichtsausdruck verriet zugleich große Zufriedenheit und überwältigende Trauer.
Weil er sich plötzlich vorkam, als wenn er durch ein Fenster eine private Unterhaltung belauschte, stellte Flint das Bild wieder auf die Kommode und ging schnell zur Treppe zurück. Hier gab es nichts, das auch nur den kleinsten Hinweis auf eine Verbindung mit Lord Xenoth lieferte.
Während es draußen dämmerte, nahm Flint unten erneut das Porträt in die Hand, das Ailea bei ihrem Tod festgehalten hatte. Es war nicht Tanis’ Abbild; das hatte der Zwerg oben auf dem Tisch neben ihrem Bett entdeckt. Mit dem gerahmten Bild der Elfenkinder in der Hand setzte sich Flint in den Polsterstuhl neben dem Kamin, weil er merkte, daß er von dem Anschlag auf ihn selbst immer noch etwas geschwächt war – natürlich nur ein wenig. Er legte die Beine auf einen Schemel und starrte abwechselnd auf das Porträt und auf das Spielzeugrotkehlchen, das er Ailea geschenkt hatte, während seine Gedanken umherschweiften.
Vor zwei Tagen war er abends nach Hause gekommen und hatte in seinem Spielzeugschrank nur noch die Soldaten vorgefunden. Mitten auf dem Tisch hatte ihm Fiona jedoch ein Stück Rosenquarz voller Fusseln hinterlassen, das mit etwas verschmiert war und verdächtig nach Traubengelee roch.
Was hatte das Kind gesagt? »Ailea war aufgeregt. Sie hat die ganze Zeit gesagt: »Die Narbe. Das ›T‹. Das Erbe«, murmelte er. »Das Erbe.«
Plötzlich sprang Flint mit einem so lauten »Reorx!« auf, daß beide Wachen an die Türen gerannt kamen. Was die Wachen sahen, war ein Zwerg, der ein Porträt an sich drückte und dabei jubelte: »Der Erbe, der Erbe, der Erbe!«
Die Wache vor Tanis’ Zimmer war unnachgiebig. Niemand durfte den Halbelfen besuchen. Selbst die Wache sah Tanis nur, wenn der Küchenjunge ein Tablett mit Essen hineinstellte und das alte Tablett herausholte – und auch dann blieb der Halbelf meist im hinteren Teil des Zimmers unsichtbar.
»Wie soll ich Beweise sammeln, wenn ich nicht mit Tanis darüber sprechen kann?« fragte der Zwerg herrisch und wedelte mit dem Porträt vor dem Gesicht der Wache herum. »Na?«
Die Wache blieb unerschütterlich. »Die Stimme hat alle Besuche untersagt«, wiederholte der Elf.
»Er hat doch nicht gemeint, daß ich nicht rein darf, du Türknopf!«
Das Gesicht der Wache wurde noch sturer. »Dann rede mit der Stimme.«
»Das werde ich!« versprach Flint. »Und dann komme ich zurück!«
Aber vor dem Raum der Stimme im Turm hatte der Zwerg auch nicht mehr Glück.
»Er hat sich zurückgezogen«, erläuterte die Wache, »zum Meditieren und Beten. Gehört zum Kentommen. Absolut keine Besucher, außer wenn eine Staatskrise droht. Wenn man ihn jetzt unterbricht, könnte das bedeuten, daß das Kentommen abgebrochen werden muß.«
Der Zwerg warf das Porträt vor Wut auf den Boden. »Das hier ist eine Staatskrise! Ich stecke mitten in einer Krise, bei Reorx! Jetzt macht die Tür auf.« Drohend ging er auf die beiden Wachen zu…
Und stand plötzlich vor zwei Kurzschwertern, die ihm die beiden grimmig aussehenden Palastwachen entgegen hielten. »Verzeihung, Meister Feuerschmied«, sagte die eine.
Voller Verzweiflung warf Flint die Hände hoch. »Was jetzt?« Er marschierte den Flur hinunter. »Ihr Elfen und eure Traditionen!« rief er nach hinten.
Er kehrte in den Palast zurück. Dort fand er ein Plätzchen auf der Treppe, wo er sich hinsetzte, um selbst ein wenig zu meditieren. Solostaran, der sich zur Zeit zurückgezogen hatte, war der einzige, der den Palastwachen befehlen konnte, ihn in Tanis’ Zimmer zu lassen. Aber die Stimme war unerreichbar – außer wenn Qualinesti beispielsweise von Minotauren angegriffen würde oder so.
Porthios, der dem Zwerg wahrscheinlich sowieso nicht geholfen hätte, befand sich bewacht im Hain und durfte wohl höchstens wegen der Umwälzung gestört werden. Gilthanas hatte gelobt, Tanis in keiner Weise zu helfen, und Laurana hatte seit über einem Monat kein freundliches Wort mehr zu dem Halbelfen gesagt.
Flint seufzte. Was für eine großartige Auswahl an Helfern! Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es Zeit war, an einen anderen Ort auf Ansalon zu ziehen, irgendwo, wo das Bier nicht wie Regenwasser schmeckte und der Wein einen Zwerg nicht nach Blüten duften ließ. Ein Ort wie Solace vielleicht.
Der Zwerg verwarf diesen Gedanken jedoch und ging noch einmal seine Kandidaten durch. Wenn Gilthanas den Zwerg überhaupt bis zu Ende anhören würde, dann würde die frischgebackene Wache höchstwahrscheinlich einen Alarm auslösen, der den Mörder bis zum nächsten Mal abschrecken würde – ganz sicher bis nach Tanis’ Verbannung. Was dem Halbelfen überhaupt nichts helfen würde. Damit blieb…
»Laurana, ich muß mit dir reden«, sagte Flint durch die verschlossene Tür.
»Geh weg, Meister Feuerschmied«, kam die mürrische Antwort.
»Es geht um Tanis.«
Pause. Dann hörte er dieselbe, etwas weniger schlecht gelaunte Stimme sagen: »Ich will nichts von Tanis hören.«
»Schön«, polterte Flint. »Dann laß ich ihn einfach sterben, ohne ein letztes Mal mit dir gesprochen zu haben. Ich sag dir Bescheid, wann die Beerdigung ist. Falls du kommen willst.« Er stampfte erst laut, dann immer leiser über den Marmorboden.
Die Tür wurde aufgerissen. »Flint, warte!« rief Laurana und sprang an dem Zwerg vorbei auf den Flur.
»Ich dachte mir doch, daß das helfen würde«, feixte Flint und stapfte in Lauranas Zimmer.
Die Elfin fuhr herum und sah den Zwerg an. Dann ging sie zurück in das kleine Wohnzimmer, das zu ihrem Privatquartier im Palast gehörte. Es war mit einem Kamin, einem kleinen Tisch und zwei einfachen Stühlen am Feuer ausgestattet. Auf dem einen hatte es sich Flint bereits bequem gemacht. Beim Eintreten knallte sie die Tür zu.
Ihr Stirnrunzeln wich allmählich Verwirrung, als Flint ihr erzählte, was er herausgefunden hatte, und damit schloß: »Dann kam ich auf das Wort ›Erbe‹!«
Aber die Prinzessin reagierte immer noch verständnislos: »Erbe?«
»Der Erbe«, drängte Flint. »Das hat Ailea gemeint. Sie hatte das Porträt von Gilthanas und Porthios in der Hand. Der Mörder, der Lord Xenoth und Eld Ailea getötet hat, will den Erben der Stimme, Porthios, umbringen.«