Jetzt kam der gefährliche Moment. Sie griff geschwind nach vorn, zog der Wache den großen Schlüsselring aus der Vordertasche und steckte den Schlüssel sofort ins Schloß. »Oh, ich bin sicher, daß es nichts macht«, sagte sie. »Da…«
Aber die Wache war gut geschult. Der Elf griff sanft, aber fest nach ihren Handgelenken und schob sie rückwärts von der Tür weg. »Tut mir leid, Prinzessin, aber ich habe meine Befehle.« Er klang ernstlich betrübt, was Laurana überraschte.
Sie machte mehrere zögernde Schritte zurück, um ihn weiter von Tanis’ Tür wegzulocken. »Ach, ich hatte gehofft…« Sie sprach leiser und dachte fest an die Lieblingskatze, die ihr gestorben war, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dankbar merkte sie, wie ihr endlich Tränen in die Augen stiegen. Sie zwinkerte, und eine Riesenträne rollte ihr über die Wange.
Der Wächter, der sich offenbar wie ein Mistkerl vorkam, ließ ihre Handgelenke los und sah zu, wie sie sehr weiblich davontrippelte und ihre Augen mit einem Taschentuch betupfte. Gerade als er zu seinem Posten an der Tür zurückkehren wollte, stolperte sie und schrie auf. (»Nicht so laut, daß jemand anderes herauskommt!« hatte Flint gemahnt. »Nur laut genug für die Wache und um ein bißchen Lärm zu machen.«)
In Sekundenschnelle war die junge Wache an ihrer Seite und legte ihr stützend den Arm um die Taille. »Was ist passiert?« fragte der Elf.
»Ach, mein Knöchel«, wimmerte sie, wobei sie sich idiotisch vorkam. »Das sind diese Schuhe.« (»Flint«, hatte sie protestiert. »Solche Schuhe habe ich schon jahrelang nicht mehr getragen!« – »Dann kannst du also um so leichter umknicken«, hatte er entgegnet.) Wieder wimmerte sie.
Hinter der Wache huschte eine kleine Gestalt mit einer Strickleiter und einem Ledersack über der Schulter um die Ecke, drehte den Schlüssel zu Tanis’ Tür um und schlüpfte hinein. Den Schlüssel ließ Flint stecken. Die Tür würde jetzt unverschlossen sein, erkannte Laurana und hoffte, die Wache würde sie nicht überprüfen, wenn sie den Schlüsselring wieder in die Tasche steckte.
Laurana versicherte der Wache, sie würde es bis zu ihrem Zimmer schaffen, dankte dem Elfen ausgiebig für seine Hilfe und ging dann langsam den Gang hinunter zu ihrem Zimmer, wobei sie sich beständig daran erinnerte, daß sie hinken mußte.
27
Flucht in die Gefahr
Tanis hatte Lauranas Wortwechsel mit der Wache offenbar mitangehört. Er stand erwartungsvoll an der Seite, als Flint in den Raum schlüpfte.
Der Zwerg händigte dem Halbelfen sein Schwert und die Scheide aus, die er ihm übergeben hatte, als die Palastwachen ihn abführten. Dann ging Flint wortlos, mit dem Finger an den Lippen, zum Fenster und spähte über den Rand. Die Wand draußen führte ohne Unterbrechung zwanzig Fuß tief in den Hof.
»Was machst du da?« fragte Tanis flüsternd.
Flint wies den Halbelfen erneut an zu schweigen, wickelte die Eisenhaken am Ende der Strickleiter aus und legte sie über das Fensterbrett. Wieder blickte er in den Hof. Er war immer noch verlassen. Die meisten Bewohner des Palastes feierten in den Straßen von Qualinost. Jubelklänge kamen hier oben an.
Zufrieden ließ der Zwerg die Leiter nach unten. Dann vergewisserte er sich, daß der dicke Sack sicher über seiner Schulter hing, schwang seinen untersetzten Körper durch das Fenster und trat auf die Leiter. Dabei hielt er kurz an, um Tanis zuzuwinken, damit er nachkam. Flint schloß die Augen, bis der leichte Schwindelanfall vorbei war.
Aber der Halbelf sträubte sich. »Weißt du, welche Strafe darauf steht, sich einem Arrestbefehl zu widersetzen?« fragte er.
Der Zwerg schlug wieder die Augen auf und zog die buschigen Augenbrauen hoch.
»Verbannung!« flüsterte Tanis.
Flint lehnte sich ins Fenster zurück und brachte seinen Mund an Tanis’ Ohr. »Was hast du also zu verlieren?« fragte der Zwerg gedämpft. »Außerdem kommst du ja zurück.«
Kurz darauf stieg Tanis von der Leiter hinunter in den Hof und sah zu, wie Flint an einem Seil zog, das die Leiter von den Eisenklammern löste, die immer noch am Fensterbrett hingen. »Eigene Erfindung«, erklärte der Zwerg gelassen, während er den Halbelfen hinter einen Birnbaum schob. Flint wühlte in dem Ledersack herum und zog eine Maske heraus, die dem Kopf eines Gossenzwergs ähnelte. Er wies den Halbelfen an, sie sich über den Kopf zu ziehen.
Tanis’ runde Augen weiteten sich. »Ich soll mich wie ein Gossenzwerg anziehen?«
»Nur ein Kostüm«, flüsterte der Zwerg. »Damit du unerkannt vom Palast zur Westbrücke kommst.«
»Ein sechs Fuß großer Gossenzwerg?« zischte Tanis.
Flint brachte seinen Freund zum Schweigen. »Das war das letzte, das der Verkäufer noch hatte. Du solltest froh sein, daß ich die nachgemachte Rattenleiche weggeschmissen habe, die noch dazugehörte.«
»Aber…«
Flint überging ihn. »Laurana sagt, daß die Elfen bis Mitternacht verkleidet sein werden. Dann endet das Fest, und sie benehmen sich wieder normal. Also haben wir eine Stunde Zeit, um aus Qualinost herauszukommen.«
Tanis hielt die Gossenzwergmaske immer noch in der Hand und betrachtete ihre olivgrüne Haut, den verfilzten Bart und den blöden Ausdruck. Auf seinem eigenen Gesicht malte sich Ärger. »Wenn du glaubst, ich würde fliehen, dann kennst du mich schlecht«, sagte er ohne jeden Versuch, seine Stimme zu senken. Er wandte sich ab, als wenn er die Maske wegwerfen wollte.
Flint hielt ihn am Arm fest. »Vertrau mir!« schimpfte er – zum tausendsten Mal, dachte er. Der Ärger in den Augen des Halbelfen wurde zu Unentschlossenheit. »Vertrau mir«, flüsterte Flint wieder.
Endlich setzte Tanis die Maske doch auf. »Ich komme mir lächerlich vor«, kamen seine Worte gedämpft hinter der Maske hervor.
»Dabei siehst du so hübsch aus«, sagte Flint. »Komm jetzt.«
Sie liefen durch den Hof und die Gärten und dann vor dem Palast auf die Straßen, wo sie sich unter die feiernden Elfen mischten. »Ja, schlafen die denn nie?« fragte Flint gereizt, als ihn bereits der dritte Elf anrempelte.
»Nur sehr wenig, bis das Kentommen vorbei ist.« Tanis’ Stimme klang unter der Maske hohl.
Flint hielt sich an den Straßenrand und schob sich an den Hauswänden entlang, um nicht von den Feiernden angerempelt zu werden.
Eine halbe Stunde später kamen sie unter dem geschwungenen Bogen durch, der den Westrand der Stadt umspannte, und wandten sich nach Süden zu der Brücke über den Fluß der Hoffnung. Die gepflasterte Straße wurde schmaler, und von beiden Seiten hingen Zweige auf den Weg. Um sie herum tanzten immer weniger Elfen, bis Flint und Tanis sich fast allein durch die Nacht bewegten. Tanis wollte die Maske absetzen.
»Warte lieber, bis wir über die Brücke sind, Junge«, sagte Flint. Beim Gedanken daran, die Brücke im Dunkeln zu überqueren, während tief unter ihm der Fluß der Hoffnung durch die Schlucht toste, wurde ihm ganz anders. Er bekämpfte das Gefühl, während er Tanis rasch erklärte, was der Zwerg in den letzten zwei Tagen erfahren – oder, besser gesagt, herausgeknobelt – hatte.
»Du glaubst also, daß jemand Gilthanas während seiner Wache am Kentommenai-Kath angreifen könnte?« fragte Tanis.
»Es ist möglich«, sagte Flint. »Und im Moment können wir uns nur an Möglichkeiten halten.«
Nach zwei Tagen Kentommen waren die Wachen auf der Brücke offenbar schon an kostümierte und maskierte Leute gewöhnt. Sie sahen nur zu, als der Zwerg und ein übergroßer Gossenzwerg auf die Brücke traten. Flint faßte Tanis am Arm – natürlich nur, um den Halbelfen zu stützen.
Dann hörten sie plötzlich Hufgeklapper hinter sich, und ein vertrautes Wiehern ertönte durch die Nachtluft. Flint fuhr herum: »Windsbraut!«
Hinter ihm in der Dunkelheit, die den Anfang der Brücke überdeckte, hielt eine der Wachen das Tier am Zügel fest. »Flint«, rief die Wache, deren Stimme im Abgrund widerhallte, »deine Freundin sucht dich.«