Die beiden besprachen ein paar Minuten lang die Entwürfe von neuen Fackelhaltern für die Zimmer der Stimme, und ob Solostaran sie in mattschwarz oder in metallisch glänzender Politur nehmen sollte. Die Stimme entschied sich für eine Kombination aus beidem. Plötzlich klopfte es an der Zimmertür. Es war Tanis. Als er zum Tisch kam, zeigte er wenig von der berühmten, elfischen Anmut.
»Du wolltest mich sehen, Stimme?« fragte der Halbelf Solostaran. Tanis machte den Eindruck eines Jugendlichen, der schon fast ein Mann ist. Er schien in doppelter Weise zwischen zwei Welten zu stehen – Elf und Mensch, Kind und Erwachsener. Bald wird er sich rasieren müssen, dachte der Zwerg. Noch mehr Beweis für Tanis’ Menschenblut. Der Zwerg wurde traurig bei dem Gedanken an die Kommentare, die der Halbelf von einigen der bartlosen Elfen zu hören bekommen würde. Auch für den Zwerg hatte Tanis ein kurzes Kopfnicken übrig; Flint knabberte jetzt doch wortlos an einem getrockneten Apfelschnitz, obwohl er zuvor alle Naschereien abgelehnt hatte.
»Es wird Zeit, daß du öfter mit dem Langbogen übst, Tanis«, sagte Solostaran. »Ich habe einen Lehrer ausgewählt.« Tanis sah freudig überrascht zu Flint. »Meister Feuerschmied?« fragte der Halbelf zögernd.
Flint schluckte das Apfelstück hinunter und schüttelte den Kopf. »Ich doch nicht, Junge. Der Langbogen ist nicht meine Waffe, auch wenn ich dir gern die guten Seiten der Streitaxt vorführe.« Und damit würde der Halbelf mit seinen wachsenden Menschenmuskeln auch hervorragend umgehen können, sagte sich Flint.
»Die Streitaxt ist keine Elfenwaffe«, wies Solostaran Flint freundlich zurecht. »Nein, Tanis, Lord Tyresian ist einverstanden, dein Training zu übernehmen.«
»Aber Tyresian…« Die Stimme des Halbelfen wurde leiser, und seine Haltung strahlte wieder Unzufriedenheit aus.
»… ist einer der erfahrensten Bogenschützen bei Hof«, beendete die Stimme den Satz. »Er ist Porthios’ bester Freund und der Erbe einer der besten Familien in Qualinost. Er könnte ein wertvoller Verbündeter für dich werden, Tanthalas, wenn du ihn als Schüler beeindruckst.«
Flint, den man bei dem Wortwechsel offenbar vergessen hatte, warf einen verstohlenen Blick auf Tanis und nahm eine kandierte Birne aus der Silberschale. Tanis und Tyresian würden niemals Verbündete sein, dachte der Zwerg, der sich an den Elfenlord von seinem ersten Tag bei Hof her erinnerte. Tyresian war Mitglied des Grüppchens der vier oder fünf adligen Elfen, die Porthios, den Erben der Stimme, umschwärmten wie Fliegen den Honig, und er hatte das Talent, bei seinesgleichen Eindruck zu schinden. Aber kaum ein gewöhnlicher Elf konnte Tyresians hohe Maßstäbe an die Herkunft erfüllen. Unter den Höflingen galt Tyresian mit seinen durchdringenden, blauen Augen und den exakt geschnittenen, kurzen Haaren – eine Seltenheit unter Elfen – als schön. Es war wenig überraschend, daß ein Hügelzwerg in Tyresians Augen wenig galt, egal wie geschickt er war, und Flint vermutete, ein Halbelf würde noch niedriger stehen. Der Zwerg fragte sich, wieviel von Porthios’ schlecht verhohlener Herablassung gegenüber dem Mündel seines Vaters wohl von Tyresians Einfluß herrührte.
Tanis wagte einen letzten Einspruch. »Aber, Stimme, mein Unterricht bei Meister Miral nimmt fast den ganzen Tag…«
Der verärgerte Solostaran schnitt ihm den Satz ab. »Das reicht, Tanthalas. Miral hat dir viel Wissenschaft, Mathematik und Geschichte beigebracht, aber er ist ein Zauberer. Er kann dich nicht das Kämpfen lehren. Tyresian erwartet dich heute nachmittag im Hof im Norden des Palastes. Wenn du vorher mit ihm sprechen willst, findest du ihn bei Porthios.«
Tanis machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts. Mit einem kurzen »Ja, Sir« marschierte er aufrecht über die Marmorfliesen zur Tür.
Solostaran starrte noch ein paar Sekunden auf die Tür, nachdem sich diese mit einem lauten Knall geschlossen hatte. Erst als Flint seine Zeichnungen einrollte, kehrte die Aufmerksamkeit der Stimme zu seiner Unterredung mit dem Zwerg zurück. »Kann ich Euch etwas anbieten?« fragte Solostaran erneut und deutete mit einer unbestimmten Geste auf die jetzt halbleere Silberschale. »Wein? Trockenobst?«
Flint lehnte ab und erklärte, er hatte schon vor seinem Besuch bei der Stimme gegessen. Solostaran grinste plötzlich – der Grund dafür war Flint nicht klar –, doch das Lächeln ließ rasch nach. Flint klemmte die eingerollten Papiere unter den kräftigen Arm und wollte gerade gehen, als die Stimme ihn zurückhielt.
»Habt Ihr Euch je gewünscht, Ihr konntet die Geschichte neu schreiben, Meister Feuerschmied?« Die Worte klangen wehmütig.
Flint blieb stehen und blickte mit seinen hellwachen, blaugrauen Augen in die grünen der Stimme. Er dachte: ›Er hat keine Freunde unter den Elfen.‹ Seit Solostaran in den tumultreichen Jahren, nachdem die Umwälzung das Antlitz von Krynn verändert hatte, den Mantel der Stimme umgelegt hatte, hatte es immer wieder Gerüchte über seine Absetzung gegeben. Er hielt seine Stellung durch seine persönliche Autorität, aufgrund der Tatsache, daß nur wenige Elfen ihre Abstammung über mehrere Jahrtausende bis zu Kith-Kanan zurückverfolgen konnten, und weil Elfen von Natur aus davor zurückschrecken, das Blut anderer Elfen zu vergießen. Dennoch mußte Solostaran über das gelegentliche unzufriedene Rumoren unter den Höflingen Bescheid wissen, dachte Flint. Manche fanden, Qualinesti sollte mehr Handel mit dem restlichen Ansalon treiben. Andere waren der Meinung, alle außer den reinblütigen Elfen mußten über die Grenze nach Abanasinia verbannt werden.
Der Hügelzwerg suchte eine Antwort auf die Frage der Stimme. Er holte tief Luft, wobei er einen Schwall Obstduft einatmete, und sagte: »Gewiß wurde ich die Geschichte ändern, wenn ich das könnte. Die Familie meines Großvaters hat aufgrund der Umwälzung viele Angehörige verloren.«
Vor dreihundert Jahren war es zur Umwälzung gekommen, weil die alten Götter gegen den Stolz des einflußreichsten religiösen Führers jener Zeit einschritten, des Königspriesters von Istar. Während die Umwälzung Krynn zerstörte, zogen sich die Bergzwerge in das unterirdische Königreich Thorbardin zurück und versiegelten die Tore. Infolgedessen hatten ihre Verwandten, die Hügelzwerge, draußen festgesessen und den schlimmsten Teil der göttlichen Strafe abbekommen.
Die Stimme zog die Augenbrauen hoch, und angesichts des Mitleids im Gesicht von Solostaran war Flint so verwirrt, daß er nicht weiterreden konnte. »Sie starben, weil die Bergzwerge die Tore versperrten…?« fragte die Stimme, und Flint nickte nur, weil er nicht mehr sagen wollte.
Solostaran stand auf und ging langsam zu der durchsichtigen Wand. Der goldene Reif auf seiner Stirn glitzerte. Bis auf den Atem der beiden war es still im Zimmer. »Ich würde fast alles darum geben«, sagte Solostaran, »Tanis wirklich als Neffen zu haben. Meinen Bruder Kethrenan und seine Frau Elansa wiederzuhaben. Meinen Bruder Arelas noch einmal zu sehen.«
Miral, der Zauberer der Stimme, hatte Flint die Geschichte von Kethrenan Kanan und Elansa und der Geburt von Tanis erzählt. Aber die Existenz eines weiteren Bruders hatte er nicht erwähnt. Die Stimme wollte anscheinend reden, und Flint hätte außer sich selbst niemanden nennen können, dem er die Geheimnisse der Stimme anvertraut hätte. Der Zwerg nahm sich eine Handvoll gezuckerter Mandeln, steckte eine in den Mund und fragte nach: »Arelas…?«
Die Stimme drehte sich um. »Mein jüngster Bruder.« Als Flint seine dichten Augenbrauen hochzog, fuhr Solostaran fort: »Ich habe ihn kaum gekannt. Er hat Qualinost als kleiner Junge verlassen. Und er starb, bevor er zurückkehren konnte.«
»Warum ist er fortgegangen?« fragte Flint.
»Er war… krank. Wir konnten ihn hier nicht heilen.«
Die sich anschließende Stille zog sich minutenlang hin, bis Flint eine Antwort wagte. »Es ist traurig, wenn ein Kind stirbt«, sagte er.
Solostaran blickte abrupt auf, wobei sich ein überraschter Ausdruck auf sein Gesicht malte. »Arelas starb als Mann. Er war auf der Rückreise nach Qualinost, aber er ist nie hier angekommen.« Die Stimme kam zu Flint zurück, wobei der Elf sichtlich versuchte, seine Gefühle zu bezwingen. »Wenn er noch eine Woche länger gelebt hätte, wäre er hier in Sicherheit gewesen. Aber damals waren die Straßen noch gefährlicher als heute.« Die Stimme nahm umständlich Platz.