Er blinzelte den Dreck aus den Augen. Dann schrie er: »Gilthanas!«
Sein Cousin rutschte den Stein hinunter und war drauf und dran, in den Abgrund zu stürzen. Verzweifelt streckte Tanis die Hand aus und konnte Gilthanas gerade noch am Handgelenk festhalten. Zuerst befürchtete der Halbelf, daß er durch das zusätzliche Gewicht selbst den Halt verlieren würde, so daß sie dann beide in die Tiefe stürzen würden, doch er schaffte es, seine Stiefelspitzen in eine Spalte in der Klippe zu graben. Er preßte sich eng an den glatten Stein und hielt Gilthanas mit aller Kraft fest. Tanis konnte nicht feststellen, ob der junge Elf lebte oder tot war.
Die lastende Schwärze der Mitternacht machte alles nur noch schrecklicher.
Tanis merkte, daß seine Handfläche schweißnaß wurde. Der Felsen neigte sich noch weiter. Wie lange konnte er noch festhalten? Es war sowieso egal. Der Stein konnte jeden Moment abbrechen.
Mit enormer Anstrengung verstärkte Tanis seinen Griff um Gilthanas’ Ärmel. Der Stein kippte weiter, und wieder kullerten einige Kieselsteine in die Tiefe. Tanis schloß fest die Augen, betete im stillen, daß Gilthanas’ Schneider einen festen Stoff verwendet hatte, und zog wieder an der Uniform.
Sein Cousin stöhnte, und Tanis’ Herz klopfte schneller. Gilthanas war am Leben! Das gab ihm wieder neue Kraft, und mit einem einmaligen Dankgebet für sein Menschenblut, das ihn so stark machte, riß der Halbelf Gilthanas vom Rand weg zu sich hoch. Dann saß er zusammengekauert auf dem schmalen, drei Fuß breiten und doppelt so langen Vorsprung aus Kalkstein und Granit und umklammerte seinen Cousin.
Tanis setzte sich etwas um, um eine weniger gefährliche Lage einzunehmen, doch das half nichts. Vorsichtig schob er seinen Cousin eng an die Klippenwand, wo der junge Mann hoffentlich nicht herunterrollen konnte, falls Tanis einschlief und ihn losließ. Wer den Halbelfen dann selbst vor dem sicheren Tod bewahren würde, wußte er nicht.
Tanis sah die Klippe hoch, erkannte aber nichts außer den Sternbildern. Bei Mondschein hätten sie Ritzen für Zehen und Finger finden und hochklettern können, aber die Nacht war so schwarz wie in einem Sarg. Weit im Osten konnte Tanis Fackeln auf dem Sonnenturm sehen. Die Diener im Palast waren bestimmt noch fleißig dabei, den Turm für den morgigen Höhepunkt des Kentommen vorzubereiten.
Er sah zu Gilthanas hinüber. Der junge Mann war bewußtlos, aber er atmete zumindest. Doch selbst wenn der Morgen zeigen sollte, daß man die Klippe hochklettern konnte, fragte sich Tanis, wie er Gilthanas die steile Wand hochbekommen sollte.
Bis zur Dämmerung würden sie jedenfalls nirgends hingehen. Er lehnte sich wieder an die Wand an, wodurch ein neuer Schwall Geröll über den Rand rutschte, und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Er fragte sich, wo Flint wohl war – und wer den Tod des Zwergs betrauern würde, wenn auch Tanis verschwunden war.
Es konnte noch viel mehr zu betrauern geben, bis die verhüllte Gestalt fertig war, dachte Tanis. Er hatte keinen Zweifel mehr, daß der Mörder auch Laurana und Porthios und vielleicht sogar die Stimme umbringen wollte. Wieder sah er zum Turm, einen hellen Finger in der Dunkelheit, wo die Stimme ihre eigene Wache für Porthios’ Kentommen hielt. Dann blickte er zur Seite zum Palast. Er hoffte, daß Laurana in Sicherheit war. Zumindest war die Wache, die bestimmt noch vor Tanis’ Tür stand, nicht weit von Lauranas Zimmern entfernt, wenn auch nicht in Sichtweite. Und er wußte, daß Flint Laurana gesagt hatte, sie solle sich bis zum Morgen einschließen.
Tanis sah auf den dunklen Fleck rechts vom Turm, wo der Hain lag, und hoffte, daß der Mörder nicht gerade jetzt auf die Bäume jenes heiligen Orts zuschlich, um den wehrlosen Erben anzugreifen.
Als er schließlich sicher war, daß das nächste Opfer des Mörders Porthios sein würde, fragte sich Tanis, wie er den Erben warnen konnte, mal angenommen, daß der Halbelf sich aus seiner gegenwärtigen Lage befreien konnte. Er würde auf keinen Fall das Melethka-Nara unterbrechen können; das würden die drei Fragenden zu verhindern wissen, selbst wenn er an den Wachen vor dem Raum tief unter dem Palast vorbeikäme.
Vielleicht gab es einen Weg, Porthios auf seinem Weg von jenem Raum zum Turm abzufangen. Der junge Mann ging diesen Weg traditionell allein, denn es war der dritte Teil des Kentommen, genannt Kentommen-Tala. Es gab zwei Hauptprobleme: Alle Palastwachen wußten, daß Tanis unter Arrest stand, und es würde nicht leicht sein, Porthios davon zu überzeugen, daß der älteste Sohn der Stimme in Gefahr war. Vielleicht…
Plötzlich schrie in der Dunkelheit über ihm ein Maultier.
Tanis ließ um ein Haar Gilthanas los, denn der Ton ließ seinen Puls rasen. »Windsbraut!« rief er, und der Vorsprung bewegte sich etwas. Das Maultier wieherte wieder, diesmal etwas näher.
Tanis’ Gedanken rasten. Wie konnte er sich das Maultier zunutze machen? Flint hatte es mit dem langen Seil von der Leiter festgebunden. Wenn es vielleicht genau am Rand stand und das Seil herunterhing…
Er schrie wieder, und Windsbraut antwortete. Ein Huf stieß oben gegen einen Stein und ließ ihn an Tanis vorbeifallen. Gilthanas regte sich neben Tanis und murmelte etwas über den Lärm. Einen Augenblick war der Halbelf voller Hoffnung.
Dann entfernte sich das Maultier von der Klippe. »Windsbraut!« schrie er. Gilthanas stöhnte, versuchte, sich aufzusetzen, und sackte wieder zusammen. Aber die Hufschläge von Windsbraut wurden leiser.
Natürlich, dachte Tanis. Sie suchte Flint. Er sackte wieder an die Wand zurück.
29
Mehr Licht
Wo auch immer er war, Flint wußte, daß er nach oben gelangen mußte, um hier heraus zu kommen, und die Stufen hinter dem Podest schienen der einzige Weg zu sein.
Seine Stiefel wirbelten Staubwolken auf, als er die lange Treppe hochstieg, doch der Zwerg hielt sich die Nase zu, um nicht zu niesen. Soweit es ihn anging – je weniger Lärm er in der bedrückend stillen Finsternis machte, desto besser. Schon jetzt hatte er den beunruhigenden Eindruck, daß ihn etwas aus den Schatten beobachtete, und zwar mißbilligend.
Flint konnte fühlen – und dabei sträubten sich ihm die Nackenhaare –, daß er hier nicht willkommen war. Aber solange es so aussah, als ob er sich nach Kräften bemühte, einen Weg nach draußen zu finden, würde vielleicht das (oder der?), was in den undurchdringlichen Schatten lauerte, ihn in Ruhe lassen.
Wie in einem düsteren Traum durchwanderte Flint die labyrinthartigen Gänge und Räume, wobei er allmählich höher kam. Das Zittern, das ihn gelegentlich überfiel, versuchte er zu ignorieren. Die feuchten Kleider klebten an seinem Körper.
Einst mußte das hier ein wundervoller Ort gewesen sein, mit all diesen höhlenartigen Sälen und den schönen Wendeltreppen. Aber mit der Zeit hatte das Wasser die einst stolzen Statuen zu grotesken Gestalten verwandelt. Kostbare Teppiche, die die Wände geziert hatten, hingen in unheimlichen Fetzen herunter wie Spinnweben einer großen Schattenspinne. Flint näherte sich einem der Wandbehänge, doch schon die Berührung seines Fingers reichte aus, um ihn zu Staub zerfallen zu lassen. Räume, deren vergoldete Wände ehemals im Licht von tausend Fackeln erstrahlt waren, stellten jetzt muffige Höhlen dar, in denen der schwache Schein von Flints Kerze kaum Helligkeit schuf. Die Luft roch noch nach denen, die hier gestorben waren.
Die Atmosphäre lastete schwer auf Flint und seinem Zwergenherz. Geschichten uralter Zwergenkönigreiche erklangen in seinem Ohr.
Während er so durch die düsteren Hallen wanderte, war Flint gelegentlich gezwungen, seine eigenen Fußstapfen zurückzuverfolgen, wenn ein Gang plötzlich in einer Sackgasse endete oder in einen Raum zurückführte, durch den er bereits gekommen war. Aber zumeist führten ihn seine Zwergensinne, die die leisesten Veränderungen von Luftzug oder Neigung der Steine mitbekamen, stetig nach oben. Wie weit er eigentlich gehen mußte, war Flint allerdings unklar. Er konnte nicht abschätzen, wie tief er in dem Schacht abgerutscht war – oder ob er überhaupt noch irgendwo bei Qualinost war.