Ein I-A donnerte den Schacht hinunter.
Wieder warf er die Leiter. Diesmal fielen zwei Leitersprossen über den Rand und lagen genau neben dem Maultier auf dem Boden, das sie verständnislos anstarrte. Der untere Rand der Leiter baumelte vor Flints Gesicht, doch der Zwerg wagte ihn nicht zu berühren, um sie nicht wieder loszureißen. Die Seile rutschten langsam wieder in den Schacht zurück. Flint fluchte leise.
Dann hob Windsbraut einen ihrer untertellergroßen Hufe und hielt ihn über die rutschende Leiter. Der Zwerg hielt den Atem an.
Gerade als die letzte Sprosse vorbeirutschte, setzte das Maultier gezielt und sauber den Huf darauf. Die Leiter blieb abrupt hängen.
Mit einem Schrei des Entzückens legte Flint eine Hand an die unterste Sprosse und zog. Das Maultier schnaubte beunruhigt bei dem plötzlichen Zug an seinem Huf, bleib aber stehen.
Flint kletterte die Leiter halb hoch, wobei er seine Schulter so gut wie möglich schonte. Bald baumelte das Ende des Seils, das er am Geschirr des Maultiers festgemacht hatte, neben ihm. Es waren nur noch zehn Fuß zu klettern.
Das Maultier wurde unruhig.
»Windsbraut, nicht!« schrie der Zwerg.
Sie hob den Fuß.
Flint hechtete nach dem Seilende, und der Hals des Maultiers wurde von dem plötzlichen, zusätzlichen Gewicht ein Stück nach unten gerissen. Die Leiter sauste an ihm vorbei auf den Boden. »Du blöder Esel!« kollerte Flint, der an dem Seil hin und her schwang.
Mit einem Ruck wich das Maultier von dem Schacht zurück und galoppierte ein paar Schritte. Mit einem heiseren Schrei schoß der Zwerg wie eine Forelle an der Angel aus dem Loch.
»Verzeih mir, Tanis«, sagte Gilthanas, als sie den Pfad über dem Abgrund entlang liefen.
Einen Augenblick lang war Tanis über die bekannten Worte entsetzt. Das hatte der Mörder gesagt.
»Du weißt, daß ich das tun muß«, sagte Gilthanas. »Als Palastwache bin ich dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Anordnungen der Stimme befolgt werden.« Er hatte das Schwert längst in die Scheide gesteckt, die er Tanis ebenfalls abgenommen hatte. Anscheinend glaubte er, daß Tanis keinen Fluchtversuch unternehmen würde.
Der Halbelf nickte. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Lage zu beurteilen, um sich müßig zu unterhalten. Allerdings…
Vielleicht würde er etwas erfahren, das er später brauchen konnte.
»Ich verstehe schon«, sagte der Halbelf. Er sah zu Gilthanas hinüber. Das Gesicht des Elfen hatte sich vor Anstrengung gerötet, wegen des Tempos, das sie seit einer knappen Stunde hielten. Sein Cousin gab den Blick zurück, und zum ersten Mal seit Jahren sah Tanis den Freund seiner Kinderzeit. »Welche Aufgabe hast du bei der Zeremonie?«
Gilthanas machte keuchend auf einer Lichtung halt. Er winkte Tanis zu, sich auf einen Stein zu setzen, und hockte sich selbst daneben.
»Wenn Porthios die Kammer unter dem Palast verläßt, schlägt er seine Kapuze über, um sein Gesicht zu verbergen. Er trägt eine graue Robe wie diese. Dann kommt er von der Kammer an eine Wendeltreppe – neunundneunzig Stufen, für jedes Lebensjahr eine. Die Treppe heißt Liassem-Eltor, Treppe der Jahre. Porthios muß die Stufen in absoluter Finsternis hinaufsteigen. Oben findet er einen Alkoven mit einer einzigen Kerze, dazu Flint und Stahl zum Anzünden.«
»Und du…?« beharrte Tanis, der sich kurz fragte, warum man ihm den genauen Ablauf der Zeremonie nicht beigebracht hatte.
Gilthanas fuhr fort: »Hinter dem Alkoven kommt ein langer Gang, der auf keiner Karte von Qualinost verzeichnet ist, weil er nur von Elfen benutzt wird, die weder Kind noch erwachsen sind – Elfen, die deshalb eigentlich gar nicht existieren. Deshalb existiert auch der Korridor nicht und steht auf keiner Karte.«
Tanis faßte wieder nach: »Deine Rolle…« Aber Gilthanas, der von der Zeremonie begeistert war, der auch er sich eines Tages unterziehen würde, war offenbar entschlossen, die ganze Geschichte zu erzählen.
»Der Korridor heißt Yathen-Ilara, Pfad zur Erleuchtung. Er führt zum Sonnenturm. Der junge Elf legt diesen Weg schweigend und allein zurück. Am Ende kommt eine Tür, wo er wartet, bis derjenige, der am Kentommenai-Kath Wache gestanden hat, sie öffnet und ihn in den Hauptsaal des Sonnenturms einläßt.«
Hier also war Gilthanas’ Platz. Es klang, als hätte er seine Rolle auswendig gelernt – bestimmt bei Miral. »Ich warte vor der Tür, bis ein Gong ertönt. Dann mache ich die Tür auf, husche hinein, lasse die Tür zufallen, nehme Porthios die Kerze ab und sage – natürlich in der alten Sprache: ›Ich bin deine Kindheit. Laß mich zurück in den Nebeln der Vergangenheit. Schreite vorwärts in deine Zukunft.‹ Porthios macht die Tür auf und betritt den Sonnenturm.«
Jetzt kam Tanis allmählich eine Idee.
»Du bleibst in dem Gang?« fragte der Halbelf.
Gilthanas klang etwas verlegen. »Ich soll Porthios’ entschwundene Kindheit darstellen, also sollte ich bei der eigentlichen Zeremonie wirklich nicht dabei sein. Aber Miral meinte, daß es keiner merken wird, wenn ich die Tür ein bißchen aufmache, um zuzuhören. Schließlich habe ich schon in sechzig Jahren selbst mein Kentommen.«
Tanis war jetzt der Plan klar, mit dem er den Mörder zur Strecke bringen würde.
Sie setzten ihren Marsch nach Qualinost wieder fort. Schließlich führte der Pfad nach unten. Trommeln und Trompeten erklangen wieder vom Palast und vom Turm her, und Gilthanas rief: »Wir müssen schneller machen! Ich komme zu spät!«
Durch die lichter werdenden Espen konnte Tanis gerade so eben die Westbrücke über den Fluß der Hoffnung erkennen. Ohne nachzudenken, machte er einen falschen Schritt und stieß gegen Gilthanas. Als sein Cousin sich überrascht nach ihm umdrehte, ging der Halbelf zum Angriff über.
Fünf Minuten später tauchte eine Gestalt in grauer Robe hinter einer Baumgruppe auf. Dahinter wackelte es im Gebüsch, und eine erstickte Stimme versuchte zu schreien, als wenn dort ein großes Tier gefesselt läge. Wer einen genaueren Blick auf die Gestalt in der Robe geworfen hätte, die jetzt den Pfad herunterkam, hätte den schwachen Umriß eines Schwerts auf der linken Seite bemerkt.
Tanis hoffte, es würde keiner hinsehen.
Er zog sich die Kapuze über das Gesicht, fing an zu rennen und überquerte die Brücke.
30
Zusammenkunft im Turm
Flint ließ das Seil los, als er gegen zwei Espen knallte, und ließ sich in das feuchte Moos sacken. Windsbraut rannte noch ein paar Schritte weiter. Dann blieb sie stehen und sah finster zu ihm zurück. Flint drohte ihr mit der Faust. »Du… du Esel!« schrie er.
Er blickte zu dem Loch im Fels zurück, um es vielleicht zu markieren, damit er eines Tages zu einer genaueren Untersuchung zurückkehren konnte. Dann beschloß er, daß die Geheimnisse der Vergangenheit – und die Schatten, die dort unten lauerten – besser ruhen sollten. Dennoch ging ihm die Sache nicht aus dem Kopf.
Tief unter ihm hatte die Stille wieder ihren schweren Mantel über die leeren Säle und Gänge gebreitet. In der Finsternis warteten die Schatten wie schon seit Jahrhunderten.
In der Ferne hörte Flint den Klang der Trommeln und Trompeten. Wieder erinnerte er sich unvermittelt an etwas: an den Anblick des Magiers, der einen Ärmel hochschob, um dem Zwerg zu zeigen, wie man die wundersame Badewanne im Palast leerte. Der Zwerg hatte eine kleine, sternförmige Narbe auf Mirals Unterarm gesehen.
Schließlich erinnerte sich der Zwerg daran, wie er bei seinem ersten Besuch mit Tanis mit Ailea in der Küche gewesen war. Sie hatte von einigen Geburten erzählt, bei denen sie geholfen hatte, und hatte eine erwähnt, die so schwierig gewesen war, daß das kleine Kind eine sternförmige Narbe davontrug. Flint wußte: Schon bald wurde Miral die Wut herauslassen, die er jahrelang trotzig in sich aufgebaut hatte. Die Stimme und mit ihr ihre drei Kinder – falls Gilthanas nicht bereits tot war – würden sterben. Flint zweifelte nicht daran, daß der Teil von Miral, der noch nicht wahnsinnig war, der Teil, den er all die Jahre zur Schau gestellt hatte und mit dem er sich mit Zwerg und Halbelf angefreundet hatte, rufen würde: »Verzeiht mir!«, während er sie ermordete.