Ohne auf seine schmerzenden Lungen zu achten, rannte er weiter.
Es war dieselbe Lichtung, da war Flint sich sicher. Derselbe gewaltige Felsen, dieselben Fichten. Immer noch lagen zersplitterte Bäume auf dem Boden, und durch das Unterholz war ein breiter Pfad getrampelt.
Er hatte die Lichtung gefunden, auf der ihn der Tylor zum ersten Mal angegriffen hatte.
Von hier aus würde er hoffentlich den Sla-Mori finden können.
Wenn er nur rechtzeitig hinkommen würde.
Wenn er sich bloß an alles erinnern würde, was er getan hatte, als er den Sla-Mori geöffnet hatte.
Miral sah von dem leeren, zweiten Balkon aus auf die Versammlung hinunter. Seine klaren Augen glänzten.
Er sah Lauranas goldene Haare im Fackellicht glitzern und verspürte kurz eine gewissen Traurigkeit – über das, was er tun mußte, über das, was er getan hatte, über das, was der Graustein ihm befohlen hatte. Das Morden hatte mit dem Tod von Kethrenan Kanan, dem Bruder der Stimme, vor fünfzig Jahren begonnen. Miral hatte die Menschenbanditen durch seine Zauberkunst gelenkt, als sie Kethrenan und dessen Frau Elansa angriffen. Und obwohl nicht Miral selbst das Schwert geführt hatte, das Kethrenan niedergestreckt hatte, war es seine Tat gewesen. Aus lauter Eifersucht.
Zum ersten Mal hatte er versucht, Menschen zu lenken. Und zum letzten. Sie hatten sich für ihn als zu unberechenbar erwiesen. Ursprünglich hatte er ihnen befohlen, auch Elansa umzubringen. Er war jedoch rechtzeitig genug eingetroffen, um zu sehen, wie sie bewußtlos auf der Straße lag, während die Räuber darum stritten, wer sie ermorden sollte. Aufgrund einer plötzlichen Sentimentalität, die ihn selbst überrascht hatte, hatte er ihnen befohlen, Elansa den Stahlanhänger wieder um den Hals zu hängen und sie liegen zu lassen.
Natürlich wußte er alles über den Graustein – daß er viel Macht besaß, zum Guten wie zum Bösen. Seit seiner Kindheit hatte er den Schlag desselben Pendels in sich gespürt. In seinem Körper lebte jemand, der den Tod eines Elfen anordnen konnte, um sich dann mit dem Kind der mißbrauchten Frau dieses Elfen anzufreunden. Um dann das Kind zu töten, als es erwachsen war.
Er bemerkte unten eine Bewegung und lehnte sich über das Geländer. Die Trommeln schlugen laut, und die Trompeten erschollen; das war der Zeitpunkt der Zeremonie, wo Gilthanas in seiner traditionellen, grauen Robe durch den Eingangssaal des Sonnenturms kommen, zu einer kleinen Tür hinten im Turm gehen und durch diese Tür verschwinden sollte. Dahinter würde Porthios am Ende des Yathen-Ilara, des Pfads zur Erleuchtung, auf ihn warten.
Ach, Miral hatte diese höllischen Elfentraditionen so satt. An die einfachsten Überlieferungen hielten sie sich, während sie die wichtigste, die Qualinesti einmalig rein machte, abzuschaffen drohten. Er würde… Miral verwarf den Gedanken und versuchte, sich wieder auf den Yathen-Ilara zu konzentrieren.
Dort würde das heutige Fest zu Ende sein, denn Gilthanas war tot.
Das war sein, Mirals, Spiel mit den Adligen, mit Porthios und besonders mit der Stimme. Ein letzter Streich, bevor sie starben. Der Magier stellte sich vor, wie sie alle in ihren golddurchwirkten Festkleidern dastanden und warteten. Sie glaubten so fest an ihren Reichtum, ihren Status, ihre Überzeugung, daran, daß sie das alles irgendwie verdient hätten. Sie würden sich fragen, wo Gilthanas war. Irgendwann würden sie unruhig werden und sich flüsternd umschauen.
Normalerweise hätte Gilthanas an der kleinen Tür gewartet. Damit hätte das eigentliche Kentommen begonnen, wo Solostaran die Zuschauer mit den uralten, vorgeschriebenen Worten begrüßen sollte, um ihnen zu erklären, daß er im Hain ein Kind verloren hätte und nun ohne Erben wäre. Die drei Ulathi wären – immer noch maskiert – vorgetreten und hätten ihre Zeilen gesprochen. Der Gong hätte Gilthanas in den Korridor geschickt, wo er Porthios ins Erwachsenenleben geschickt hätte. Porthios hätte von der Stimme einen Kelch mit dunkelrotem Wein gereicht bekommen, der Solostarans reines Blut symbolisierte – und Porthios förmlich zum Erben erklärte. Und von diesem Moment an hätte man Porthios offiziell als Erwachsenen angesehen.
Miral lachte. Anstelle dieses ganzen Firlefanzes, den die Elfen so liebten, würde Miral aufstehen und Porthios aus dem heiligen Korridor zu den anderen herausrufen, um dann die Worte zu sprechen, die alle Türen versiegeln würden. Damit würde es aus sein mit der Zeremonie.
Und mit ihrem Leben. Und wenn alle tot waren, würde er die Stimme sein.
Wieder schlugen die Trommeln. Miral lehnte sich vor, um seinen Gesang anzustimmen. Dann hielt er sprachlos inne.
Gilthanas hatte den Turm betreten.
31
Der Mörder wird gestellt
Miral war wie erstarrt, als die Gestalt in der grauen Robe den Turm betrat. Das Murmeln der Gäste verstummte, und die Zuschauer sahen erwartungsvoll zu, wie Gilthanas am inneren Rand des Turms entlang lief.
Aber Gilthanas ist tot, schrie es in dem Magier.
Irgend etwas an Gilthanas war jedoch verändert, dachte er. Der Mann wirkte größer; die Robe saß etwas stramm um seine Schultern. Die Gestalt in der Robe sah eher Tanis ähnlich als Gilthanas.
Aber Tanis war doch auch tot.
Mirals Blick folgte der grauen Robe, die mit geschmeidigen Bewegungen zum richtigen Portal rannte, um dann dort zu warten.
Solostaran kam in seinen gold-grünen Gewändern aus einem Nebenraum und ging quer durch den Saal zum Podium. Feierlich stieg er die Stufen zur Plattform hoch und drehte sich der Menge zu, um die kleine Rede zu halten, die seit zweitausend Jahren alle Eltern beim Kentommen eines Kindes sprachen.
»Dieser Tag ist für mich voller Leid«, sagte er schlicht in der alten Elfensprache. »Ich habe ein Kind verloren.«
Oben auf dem Balkon erfaßte Miral plötzlich das Komische der Situation. Schweigend schüttelte er sich vor Lachen. Was wußte Solostaran schon, dachte er. Der Magier beschloß, die Farce noch etwas weitergehen zu lassen. Wer weiß, mit was für anderen unwissentlich absurden Sprüchen die Stimme noch kommen würde?
Solostarans Raubvogelgesicht war ernst, als er fortfuhr: »Ich habe im Hain ein Kind verloren. Darum habe ich keinen Erben. Kann mir jemand Trost spenden?«
Auf dem ersten Balkon, direkt unter Miral, ertönten Trommeln. Er hörte, wie sich weit unten eine Tür öffnete und drei maskierte Elfen in schwarzen Seidenhosen, entsprechenden Umhängen und schwarzen Lederhandschuhen heraustraten. Die Ulathi.
»Wir haben ein Kind gefunden«, sagte der erste.
»Er ist reinen Herzens«, sagte der zweite.
»Dieses Kind ist ein leeres Gefäß, das gefüllt werden kann«, sagte der dritte.
Alle gleichzeitig sprechen: »Wir haben ein Kind gefunden, das dein Erbe sein soll und der deines Geschlechts.«
Der Gong erklang. Gilthanas stieß die Tür auf und verschwand dahinter. Dann schloß sich die Tür.
Als Tanis aus dem grellen Licht des Turms plötzlich in die fast völlige Finsternis trat, mußte er blinzeln. Er konnte die Kerzenflamme flackern sehen, doch Porthios’ Gestalt war nur ein unscharfer Umriß in der Dunkelheit. Die Medaille, die Flint gemacht hatte, glänzte im Kerzenschein.
Er mußte näher an Porthios heran. Was hatte Gilthanas noch für Worte gesagt? Tanis überlegte angestrengt.
»Ich bin deine Kindheit«, deklamierte er, wobei er versuchte, seine Stimme so hell wie die von Gilthanas klingen zu lassen. »Laß mich zurück. Die Nebel sind vorbei – « Das klang nicht richtig, aber er tat sein Bestes. »Geh in deine Zukunft.«
»Gilthanas!« sagte Porthios entsetzt. »Sag die richtigen Worte – und zwar in der alten Sprache!«
Tanis zögerte.
»Hast du sie vergessen?« zischte Porthios. »Hör zu.« Der Sohn der Stimme wiederholte die korrekten Worte in der alten Sprache. »Sag es.«
Tanis zögerte immer noch. Porthios kam näher, wie Tanis es gewünscht hatte.