Ich sollte sofort ins Bett gehen, schlich mich statt dessen aber auf die Zinnen, wo ich meine Spielzeugsoldaten zurückgelassen hatte, als wir zum Empfang des Elfs gerufen worden waren. Selbst für einen frühen Spätsommermorgen waren die Zinnen kalt. Meine Legionen waren so aufgebaut, daß sie bequem die Zugbrücke und den niedrigen, sumpfigen Wald eine Meile westlich der Wasserburg überblicken konnten. Ein paar Soldaten waren infolge von Zweckentfremdung kopflos, andere, die noch ziemlich heil waren, lehnten an den Zinnen.
Mittlerweile hatte Quivalen Soth die andere Seite des Grabens erreicht, wo ein gut gezielter, eiserner Soldat, der ihn an seinem schön gekämmten Dichterkopf von hinten traf, ihm ziemlich weh getan haben mußte. Aus dieser Entfernung war ein neunjähriger Möchtegern-Assassin, der sich zwischen Efeu und Klematis und anderen Gewächsen versteckte, selbst für die schärfsten Elfenaugen praktisch unsichtbar.
Doch unglücklicherweise beobachteten andere Augen die Szene. Alfrik war mir auf die Zinnen gefolgt (ich war damals schließlich erst neun und noch nicht daran gewöhnt, mich ständig nach verdächtigen Brüdern umzuschauen). Verborgen im Schatten der Zinnen und hinter wildem Wein stand er da und wurde Zeuge der Bombardierung von Quivalen Soth.
Der Erbe der Familie packte mich schon, bevor der Elf den Weg einschlug, der von unserem Haus fast zum nächsten Ziel seiner endlosen Bardenwanderungen führte.
»Ich seh alles, du kleines Aas«, zischte Alfrik.
»Du meinst, du hast alles gesehen«, berichtigte ich ihn, da ich meinen Bruder nur zu gern daran erinnerte, daß ich bei Gileandos in viel größerer Gunst stand als er. Das war zu diesem Zeitpunkt nicht die klügste Bemerkung, denn Alfrik stürzte sich auf mich wie ein wilder Eber. Mit meinem großen Bruder im Rücken, das Gesicht unangenehm fest gegen die moosbewachsenen Steine der Zinnen gedrückt, den Kopf in Efeu und Unkraut verheddert, so daß es aussah wie ein Kranz auf der Stirn eines zweitklassigen Barden, berichtigte ich meine Berichtigung.
»Was hast du denn eigentlich gesehen, Bruderherz?«
»Ich hab gesehen, wie du den Soldat nach dem Elf geworfen hast«, erwiderte er.
»Aber du hast nicht gesehen, Bruder, was der Elf vorhatte. Da war etwas Glitzerndes – hab ich gesehen –, das hielt er gegens Licht und steckte es dann in den Ärmel seiner langen Bardenrobe. Bestimmt was von unserm Silber oder ein Kristallkelch von Vaters Tafel.«
»Nur, heute war gar kein Kristall und kein Silber auf dem Tisch. Wir hatten ’nen Dichter da, keinen Händler.« Er stieß mein Gesicht noch fester gegen die Mauer. Ich schmeckte Mörtel und Moos.
»Aber du hast nicht gesehen, wie er Karten gezeichnet hat – Karten vom Gelände um das Haus. Bestimmt ist er ein Agent aus Neraka oder ein Spion für irgendwelche antisolamnischen Fanatiker, die Vater belagern wollen.«
Alfriks Griff ließ nicht nach, ebensowenig der Druck des Granits gegen meine Nase. Ich ging zu einer anderen Taktik über.
»Hast du dir schon mal überlegt, Alfrik, daß du Opfer von einem Elfenzauber sein könntest? Hypnose? Daß das, was du siehst, nur scheinbar stattfinden könnte?«
Sein Griff ließ nicht nach, denn Alfrik bewegte sich auf dem schmalen Grat, auf dem Dummheit gewisse Einsichten erlaubt. Er hatte einfach nicht die Phantasie dazu, sich etwas vorzustellen, was seine Augen nicht sahen.
Also war ich gezwungen zu beichten, zu plappern, zu weinen und zu betteln und mich seiner Gnädigkeit auszuliefern, die damals leider bei ihm noch nicht besonders ausgeprägt war.
Doch Alfrik entwickelte eindeutig Phantasie, als die ersten schwachen Schimmer von übler Nachrede in den folgenden Monaten aufleuchteten. Wie der Leser bereits weiß, war Gastfreundschaft meinem Vater heilig, und in meiner Vorstellung wuchs meine Missetat und hing durch die Grausamkeit und Gier meines Bruders wie ein Damoklesschwert beständig über mir.
Es half auch nichts, daß Quivalen Soth eines seiner wortreichen Epistel an Vater schrieb, in dem er behauptete, daß er einen »visionären Moment erlebt« habe, als ihn ein »göttliches Geschoß« von den Zinnen der Wasserburg am Hinterkopf getroffen habe.
War das Objekt, das vom Himmel gefallen war, ein Geschenk von Branchala? Da Soth den Spielzeugsoldaten niemals gefunden hatte (glaubt mir, dafür habe ich gesorgt, indem ich die ganze Arbeit tief im Misthaufen der Burg vergrub), nahm er die blaurote Beule an seiner Birne als physikalischen Beweis dafür, daß der Künstler für seine Kunst leiden muß.
Leider wurden aus diesen visionären Momenten in den darauffolgenden Monaten richtige Aussetzer, von denen sich der Elf irgendwann erholte, um diese Erfahrung dann in dem Werk Solinaris Dunkel zu verarbeiten, das zwar nie gedruckt wurde, jedoch durch mündliche Verbreitung in unseren Teil von Küstenlund gelangte. Der Bezug auf den »Morgenschuß eines grauen Ritters« war zwar zweideutig, ließ Vater jedoch immer argwöhnen, ob nicht doch einer seiner Söhne hinter diesem Anschlag stand, besonders als er mitbekam, wie die Diener den Vers gekrümmt vor Lachen rezitierten.
Nein, Vater würde mir meinen Angriff auf einen berühmten Barden nicht verzeihen. Er würde mich wahrscheinlich rauswerfen, damit ich im Sumpf südlich der Wasserburg sehen sollte, wo ich blieb. Im Wächtersumpf, aus dem unseres Wissens nach niemand zurückkehrte.
Unter Alfriks Drohungen übernahm ich seine Aufgaben beim Ausmisten und beim Putzen seines Zimmers. Und wenn ein Pferd oder ein Diener hinkte, war es der kleine Galen, nicht der verantwortliche Alfrik, der das beichtete und Vaters Zorn über sich ergehen ließ. Als aus den Monaten Jahre wurden, fragte ich mich allmählich, ob es mir nicht helfen würde, die ganze Soth-Geschichte zu bekennen. Wahrscheinlich nicht.
So war der Stand der Dinge zu einer Zeit, als mir der Widerstand große Freude bereitete und ich eine so süße, so geschickte Rache einleitete, die sich acht Jahre nach jener Sommernacht und zwei Wochen nach meinem siebzehnten Geburtstag erfüllen sollte. Doch dann kam die Nacht, von der ich bereits berichtet habe.
Von meinem damaligen Standpunkt aus mußte die Rache erst noch süß werden. Denn das Licht im Gang war kaum verschwunden, und der Kerker, in den Alfrik und ich verbannt waren, war kaum still geworden, als mein Bruder wie gesagt wie eine Riesenkrabbe über den dunklen Boden auf mich zuzukriechen begann. Dabei strauchelte und fluchte er in der Finsternis und schimpfte: »Wo bist du jetzt, du kleiner Schuft?«
Ich sprang rasch hinter die nahende Stimme, piepste »Hier drüben!« und sprang wieder fort. Ich hörte den Krabbenbruder herumfahren und fluchen und sprang wieder hinter das Geräusch seiner Bewegung. Es war ein Blinde-Kuh-Spiel, und das wußte ich.
»Hier drüben!« quiekte ich wieder. Da bewegte sich etwas an meinen Füßen. Ich sprang rückwärts von dem Geräusch weg und direkt in die starken Arme meines Bruders.
Jetzt war Alfrik am Zug. Ich fühlte einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf. Dann schlossen sich ungeschickte, aber feste Finger um meinen Hals, und ich fiel aus der Dunkelheit irgendwo in eine noch tiefere Schwärze.
Ich erwachte, als mir eine Laterne in die Augen leuchtete. Gileandos war über mir. Er beugte sich über mich, wobei er die Laterne auf Armeslänge von sich abhielt. In der anderen Hand hielt er einen Teller mit Brot und Käse. Hinter ihm standen zwei Wachen, die ihre Aufgabe als Wärter der Zelle genossen. Ich kannte sie aus den Ställen und wußte, daß Alfriks Gefangenschaft sie begeistern mußte. Was mit mir war, war ihnen zweifelsohne egal.
»Mein Junge, du bist ›gar fein geprügelt und verhauen‹, wie es in dem alten Gedicht heißt«, rief Gileandos aus.
Es tat weh, mich aufzusetzen, zu atmen oder mich gar noch an irgendein altes Gedicht zu erinnern. Mein linkes Auge wollte sich kaum öffnen, und das Licht der Laterne tat furchtbar weh. Ja, gar fein geprügelt und verhauen war eine ganz gute Beschreibung.