Aber Gileandos war noch nicht zufrieden und fuhr fort:
»Solche Leiden sind bei frisch Eingesperrten nicht unüblich. Das Zusammenspiel von Melancholie, Dunkelheit und feuchter Luft ist schmerzlich, aber selten tödlich. Es gibt Geschichten von Santos Silberklinge, Ritter von Solamnia und Ahnherr unseres Gastes, Sir Bayard Blitzklinge. Darin wird erzählt, wie Santos die Belagerung von Daltigod überlebte, obwohl er in den Kerkern dieser verhaßten Stadt saß, und wie sich beim siegreichen Einzug von Vinas Solamnus und seinen Gefolgsleuten die Gefängnisse öffneten und Santos heraustrat: ›Zerschunden und zerschlagen, aber unbesiegt‹ heißt es im Lied.«
»Galen ist gegen die Wand gerannt«, mischte sich mein Bruder aus der Ecke der Zelle ein. »Eine Ratte hat ihn erschreckt, und er ist einfach losgerast.«
»Na, na, Alfrik«, schalt Gileandos und beleuchtete mit seiner Laterne das Gesicht meines Bruders, das hungrig, aber ansonsten nicht besonders schlimm aussah. »Es ist doch ganz offensichtlich, daß wir es hier mit der eben erwähnten Krankheit der Gefangenen zu tun haben, die zweifellos durch das für diese Jahreszeit ungewöhnlich kühle Wetter noch verschlimmert wird, die ich folgerichtig auf die vorzeitige Wirkung von Sonnenflecken auf die Marschdämpfe zurückgeführt habe, deren Faktoren alle…«
»Er ist gegen die Wand gerannt. So war es. Nicht wahr, Brüderchen?« Alfrik ließ mich nicht aus den Augen.
Ich wählte meine Worte vorsichtig.
»Mein Bruder hat recht, Gileandos. Es war eine Wand, da bin ich mir sicher. Und es war eine Ratte, die mich erschreckt hat, so daß ich den unglücklichen Sprung unternahm, der zu dieser Verletzung geführt hat.«
Ich legte mich wieder hin und versuchte, noch geprügelter und mitleiderweckender auszusehen.
»Und dazu kommt noch, daß ich die Verletzung hätte vermeiden können, wenn ich bloß auf Alfrik gehört hätte, der mir gesagt hatte, ich sollte stehenbleiben, bis er ein kleines Feuer für uns gemacht hat, damit wir etwas sehen können – er hat wirklich ein bemerkenswertes Talent dafür, an den unmöglichsten Orten Feuer zu machen… aus den unmöglichsten Sachen.«
Umständlich und vielleicht ein bißchen zu direkt.
»Was war das?« Gileandos beugte sich vor, weil seine Aufmerksamkeit endlich mir galt. »Was hast du da gerade über Feuer gesagt?«
»Ach, nichts. Wie gesagt, ich war erschreckt«, wimmerte ich, »und vielleicht ein bißchen ein Opfer jener Krankheit, die Ihr gerade erwähnt habt, aber es war ganz bestimmt eine Ratte – eine große, die größte aus dem Wurf, dennoch eine gewöhnliche Ratte –, die mich so traurig zugerichtet hat, wie Ihr hier sehen könnt.«
Gileandos beugte sich mit prüfendem Blick über mich und stellte den Teller hin.
»Zu einer Ratte gehört mehr als der Käse, den sie frißt«, erklärte er mit fragender Stimme. »Dein Frühstück. Bevor es kalt wird.«
Er drehte sich um, machte die Tür hinter sich zu und ließ uns im Dunkeln zurück.
Als seine Schritte im Gang verhallten, hörte ich eine Bewegung in der gegenüberliegenden Ecke der Zelle. Ich duckte mich, fühlte einen Luftzug, als etwas Großes über mich hinwegzischte, hörte, wie es gegen die Wand knallte und wie mein Bruder fluchte. Ich kroch dorthin, wo ich die Mitte der Zelle vermutete.
»Das mit der Ratte habe ich wohl begriffen«, knurrte Alfrik von irgendwoher.
Gut. Dann hatte Gileandos es vielleicht auch. Ich blieb still.
»Und was sollte das eigentlich mit dem Feuer?«
Ich war immer noch still.
Und das blieb ich auch für Stunden oder gar einen ganzen Tag. Ich bewegte mich, wenn ich Bewegung hörte, und stand reglos da, wenn nichts zu hören war.
Ich versuchte, mich mit der Möglichkeit abzufinden, daß ich nie wieder schlafen würde, als sich ein Schlüssel im Schloß bewegte. Licht strömte in die Zelle, und ich erkannte, daß Alfrik und ich kaum einen Schritt voneinander entfernt Rücken an Rücken standen. Er drehte sich um und griff nach mir, doch bevor mein Bruder zulangen oder ich mich auch nur ducken konnte, stand Vater zwischen uns, in der Linken eine Fackel, in der Rechten die Vorderseite von Alfriks Hemd. Er hielt meinen ziemlich fülligen Bruder gut einen Fuß über den Boden.
Ich staunte über die Schnelligkeit und die Kraft des alten Mannes und gelobte, ich würde ein so ergebener Sohn sein, wie es geboten schien.
An der Tür standen unsere beiden strammen Bewacher, die uns anstarrten und offensichtlich versuchten, ihr Grinsen zu verbergen. Auf ein Nicken des alten Mannes machten sie sich daran, Fußschellen an der Kerkerwand zu befestigen. Auf ein weiteres Nicken meines Vaters trat Gileandos in den Raum.
Ich zählte nur zwei Ketten in den Händen der Diener.
Vater, der immer noch meinen ältesten Bruder in die Luft hielt, nickte erneut Gileandos zu, der mit bester Lehrerstimme die neuen Umstände erläuterte.
»Lüg niemals Ältere an, Galen. Du bist weder geschickt genug noch erfahren genug. Denn, mein Junge, ein geschulter Geist kann in der Sprache Wunder entdecken, und es ist wirklich nicht möglich, daß jemand in deinem Alter… und bei deinem Mangel an Bildung… hätte wissen können, daß er mit seiner Lüge paradoxerweise die Wahrheit enthüllte.«
Das hörte sich nicht gut an. Der alte Mann fuhr mit seinen senilen Träumereien fort. Meine Finger juckte es nach Kohlen, nach Phosphor, nach Vaters Fackel. Er schien wirklich um erneutes Abfackeln zu betteln.
»Denn jeder Text, ob gelesen oder gesprochen«, leierte er weiter, »hat einen tieferen Sinn, und der tiefere Sinn deiner Lüge enthüllte eindeutig, daß Alfrik die Ratte in deiner kleinen Geschichte war, daß deine Verletzung auf keine Ratte im wörtlichen Sinn und auch auf keine Wand außer dem einfachen, jedoch gewaltsamen Arm des eben benannten Bruders zurückgeht. Ist das richtig?«
»Ja, Gileandos.« Warum sollte ich ihn mit der ganzen Wahrheit verwirren? Ich versuchte, beeindruckt zu wirken, und lächelte dümmlich. Er lächelte verächtlich zurück.
»Und außerdem hast du ein Geheimnis gelüftet, das ich seit einem halben Jahr zu durchschauen versucht habe, seit der ersten, unglücklichen Feuersbrunst? Ist das richtig?«
»Ich weiß nicht.«
»Na, na, Junge. Dachtest du etwa, es würde mir gefallen, immer wieder unerklärlicherweise in Flammen aufzugehen, ohne zum Kern der Sache durchzudringen? Als du versucht hast, die Schikanen deines Bruders zu decken, hast du in Wirklichkeit das aufgedeckt, was wir als seine… gefährlicheren Neigungen bezeichnen könnten. Wäre da die Wahrheit nicht von Anfang an besser gewesen?«
»Wahrscheinlich, Gileandos.«
Als die Dienstboten einen schäumenden, tobenden Alfrik in die Fußschellen legten, funkelte Vater ihn an und schwang die Fackel wie ein sagenumwobenes Schwert.
Ich wußte, daß ich jetzt den Mund halten mußte. Gileandos sprach weiter.
»Dein Vater und ich haben über deine Bestrafung geredet, Galen, und wir haben beschlossen, daß es am passendsten für dich ist, wenn du mitansiehst, wie dein Bruder hier für seine Missetaten gestraft wird. Du wirst in dieser Zelle bleiben, bis Sir Bayard seine Rüstung wieder hat. Wir rechnen damit, daß du am Schicksal deines Bruders reifst, der, da er erwachsen ist, natürlich die Strafe eines Mannes empfängt.«
Mein Vater fragte sich anscheinend, wie er einen Brandstifter, einen Mystiker und einen Lügner, aber keinen einzigen Kerl mit dem Zeug zum Ritter gezeugt haben konnte. Und die beiden Wärter fragten sich offensichtlich, ob alle reichen Familien so waren.
Schweigend verließen sie die Zelle. Dann hörte ich drüben in der Dunkelheit wie in einer schlechten Gruselgeschichte die Ketten rasseln. Mein Bruder begann, sich auszumalen, was er mit mir anstellen würde, wenn er mich in die Finger bekam.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür und zog Resümee.
»Ich sehe das so, Alfrik, daß deine wilden Drohungen und Versprechungen völlig nutzlos sind, solange du angekettet bist. Und so, wie es aussieht, wirst du für immer in Ketten liegen. Wahrscheinlich wirst du hier mindestens zehn Jahre bleiben, bis mal wieder ein Ritter seinen Ruf als gerechter Mann festigen will, indem er dir eine letzte Chance als Knappe gibt. Wie oft war das jetzt eigentlich, Alfrik?