Aber das lag ihm zu fern, also brachte er eine vernebelte Version derselben alten Geschichte vor.
»Als ich in jener Nacht vom Bankett hochkam, um eine Runde durch die oberen Geschosse zu drehen, denn du hast uns immer gesagt, Vater, es sind harte Zeiten, und es gibt nicht viele ehrliche Menschen…«
»Und möge es nicht einer weniger sein, als du behauptest, Junge«, drohte Vater, der unter seinem roten Bart und den roten Augenbrauen dunkel anlief. Bayard kehrte seufzend zu seinem Stuhl zurück, als eine Wolke draußen vor die Sonne zog und die Fenster dunkel wurden. Das Blau in den Flügeln des bunten Eisvogelfensters verblaßte zu einem fahlen Grau, bis es so aussah, als ob jemand am Ostfenster stünde. Obwohl es so abwegig war, dachte ich einen Moment lang, daß wirklich jemand vor dem Fenster stand – vielleicht einer, der den Prozeß ausspionierte. Ich sah Bayard an, um festzustellen, ob er es bemerkt hatte.
Er hatte sich hingesetzt und hörte meinem Bruder zu.
»Hab Galen an der Tür zu Sir Bayards Zimmer gesehen, und weil ich doch ein Knappe sein wollte, der brav die Interessen seines Herrn schützt…«
»Ja, ja, Alfrik«, drängte Bayard. »Du hast deinem Bruder die Tür aufgemacht…«
»Der behauptete, daß da draußen ein verdächtiges Element herumsprang. Von da an wird alles etwas unklar, Sir. Ich glaube kaum, daß ich sah, wer mich niedergeschlagen hat. Könnte schon der Kerl da drüben gewesen sein. Könnte aber auch Galen gewesen sein.«
Er lächelte unschuldig, da sein verräterisches Herz endlich siegreich war.
Unter den Dienern und Pächtern hob Gemurmel an – für Leute wie sie war das hier ein grandioses Schauspiel. Vater wurde so rot, daß er schon am Rand eines Schlaganfalls stehen mußte, und setzte sich wieder, wobei er seine Armlehnen so fest umklammerte, daß ich sie knacken hörte und erwartete, daß das Holz splitterte. Brithelm lehnte sich mit einem so blassen, mitleidigen Gesicht über Vaters rechte Schulter, daß ich mich allmählich fragte, ob er auch Böses im Schilde führte. Bayard lehnte sich an und warf einen gequälten Blick auf mich.
»Das nächste, was ich weiß«, fuhr Alfrik gelassen fort, »ist, wie Ihr mich selbst aus dem Schrank gezogen habt, so daß ich das Alibi von dem kleinen Wiesel da kaum bestätigen kann.«
Ich begann zu stottern und zu weinen.
»Vater, das ist völlig unfair.«
Das war gut. Ich hustete, blickte auf den Boden und ging dann rasch in eine der Ecken, wo eine Fackel in ihrer Halterung rauchte.
»…und Ihr, Sir Bayard, dessen Vertrauen die unschönen Worte meines Bruders wie Brechbohnen erfaßt, verdreht und gebrochen haben…«
Ein schlechter Vergleich, aber bodenständig, der mir sicher das Mitgefühl der Diener und Bauern verschaffte, das ich gerade gebrauchen konnte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die spuckende Fackel und ließ den Rauch über mein Gesicht streichen, damit meine Augen brannten und näßten.
Das Zweitbeste nach echtem Weinen. Tränenüberströmt drehte ich mich wieder zu meinem Publikum zurück. Der Gefangene lächelte dünn und griff in die Falten seines Umhangs. Bayard bemerkte die Bewegung und trat leise und aufmerksam vom Kamin weg, wobei er den ramponierten Mann in Schwarz genau im Auge behielt.
»Oh, feiner Herr, durch mein Versäumnis bin ich eine Schande für meinen Vater und seine glorreiche Vergangenheit…«
Ich senkte den Kopf. Brithelm trat vor und ergriff sanft meinen Arm.
»…eine Schande für fünf Generationen der Familie Pfadwächter. Bis ins fünfte Glied.«
»Galen. Galen.« Mein Bruder Brithelm gab sich größte Mühe, mich zu trösten. »Sicher war nichts, was du getan hast…« Ich riß meinen Arm aus seinem tröstenden Griff, verbarg mein Gesicht in den Händen und fuhr fort.
»Wenn es doch so wäre! Aber mein Versäumnis ist schändlich. Wie mein älterer Bruder habe ich mich gedrückt und habe genickt…«
»Hast mehr getan als zu nicken, Galen Pfadwächter«, brüstete sich der Gefangene triumphierend. »Mehr als nicken, denn du hast das Geschäft gierig angenommen.«
Zu meinem Erstaunen zog der knochige Gefangene meinen Namensring aus der Tasche, das Pfand, das er – oder der jemand, der in jener schicksalhaften Nacht die Rüstung gestohlen hatte – mir abgenommen hat, um mich zum Schweigen zu zwingen.
Eine Fackel hinten in der Halle ging aus, doch die Diener waren zu gebannt von dem Schauspiel. Das Licht wurde nicht wieder angezündet. Ich bastelte mir stammelnd eine Geschichte zurecht.
Aber es kam nichts dabei heraus. Ich brachte nur Gestotter und schwaches Stöhnen hervor: »Wie ist er an meinen Namensring gekommen? Das kann nicht meiner sein! Es muß eine Fälschung sein! Oh, daß dieser Einbruch auch noch durch Fälschungen verschlimmert wird…«
Vaters großer Stuhl wackelte, als er aufsprang. Die Hunde stoben jaulend auseinander.
»Ruhe, Galen!« donnerte der alte Mann. »Woher wußte er deinen Namen? Wie sollte er deinen Namensring kopieren, wenn es doch auf der ganzen Welt nur ein Vorbild gibt?«
»Das weiß ich nicht, Sir. Vielleicht… hat er ihn mir in der Nacht, als er die Rüstung gestohlen hat und als ich bewußtlos war, abgezogen?«
Vater biß nicht an.
»Zeig mir deine Hand!« befahl Vater in einem Ton, der keine Ausflüchte zuließ.
Ich konnte nur noch gehorchen. Meine nackte, zitternde Hand verursachte allgemeines Geflüster und Hab ich’s nicht gesagt? unter den lauschenden Dienstboten. Vaters Gesicht verfinsterte sich.
»Aber… aber – «
»Und warum«, fragte Vater mit gefährlich gedämpfter Stimme, »haben wir bis eben nichts davon erfahren, daß dein Namensring verschwunden ist?«
Dafür hatte ich keine schnelle Lüge parat. Tödliches Schweigen.
»Galen, ich bin zutiefst verletzt«, sagte Vater nach einer unendlichen Zeitspanne mit leiser, resignierter Stimme. »Wenn ich diesen Rüstungsdieb ansehe, wenn ich dich und deinen Bruder ansehe und alles, was ihr gemeinsam und einzeln getan habt, bin ich arg in Versuchung, den Dieb hinrichten zu lassen und euch beide so lange auszupeitschen, bis ihr um die Hinrichtung fleht. Aber ich nehme an, das würde gegen den Kodex von Solamnia verstoßen, egal wie sehr es dem gesunden Menschenverstand entspricht. Ich überlasse die Ermittlung von Urteil und Strafe Sir Bayard Blitzklinge.«
Damit wurde ich aus dem Saal geführt, genauso unsanft wie mein Bruder, aber glücklicherweise nicht zurück in dieselbe Zelle. Alfrik durfte sich frei im Haus bewegen, weil er nur nachlässig gewesen war, während ich vorerst in Gileandos’ Bibliothek eingesperrt wurde. Die richtige Zelle – wir hatten nämlich nur eine – war für den Mann in Schwarz.
Zwischen den Pulten und Schreibtischen, den Büchern und Schriftrollen, den Knochen und Pulvern und alchemistischen Apparaten warf ich dort wieder einmal die Calantina. Ich erhielt die Neun und die Elf, Tunnel auf Stein, das Zeichen der Ratte. Ich konsultierte die Bücher und Kommentare und war wieder einmal im unklaren über mein Schicksal.
Ich wartete stundenlang. Das einzige Geräusch war das Schlagen der Turmuhr, die Drei, Vier, dann Fünf schlug. Irgendwann am späten Nachmittag ertönte leise der schrille Schrei eines Eichelhähers vor dem Fenster der Bibliothek, und zweimal hörte ich das unverwechselbare schwere Schnaufen meines Bruders, der draußen im Flur herumschlich.
Einmal probierte er es an der Tür. Zu seiner Enttäuschung und meiner Erleichterung war sie abgeschlossen, und nach den Ereignissen vor vierzehn Tagen war er nicht länger der Schlüsselmeister. Dennoch versteckte ich den Beutel mit den Opalen tief in der Tasche meiner Tunika und vertrieb mir dann bis zum Abend die Zeit.
Ich las ein Buch über Zwergensagen und ein anderes über Sprengpulver. Dann probierte ich mehrere von Gileandos’ Roben an, hing etwas gewagt im Alkoven der Bibliothek herum und spielte dabei mit den Elixieren und Pülverchen herum, die er bei den alchemistischen Apparaturen aufbewahrte. Schließlich kletterte ich auf einen Tisch und schlief inmitten der Papiere und Manuskripte ein. Als ich aufwachte, war es draußen dunkel, und ich hatte dieses ungute Gefühl, wenn man irgendwo aufwacht und weiß, daß man nicht allein ist.