»W- wer ist da?«
Keine Antwort, aber ich bemerkte, daß das Geräusch von einem kurzen, unruhigen Flattern am Fenster kam. Anscheinend war nicht nur ein jüngster Sohn hier eingesperrt.
Ich zündete eine Kerze an, hielt den Atem an und ging dem Geräusch nach.
Es war nur ein Vogel, der auf dem Fensterbrett hockte – ein großer, häßlicher Rabe, der mit seinen schwarzen Flügeln gegen die dunklen Fensterscheiben schlug. Ich griff über den Vogel hinüber und öffnete das Fenster. Dabei flüsterte ich: »Wie bist denn du hier reingekommen, kleiner Vogel?«
Der Rabe stand auf dem Fensterbrett und blickte mich teilnahmslos an. Einen Augenblick lang sah er aus wie ausgestopft, und ich fragte mich, ob ich die Bewegung und das Geräusch geträumt hatte.
Dann legte er langsam, fast mechanisch den Kopf schief und sprach mit einer trockenen Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien.
»Ungefähr genauso wie du, kleiner Junge. Ich habe mich mit Leuten angelegt, die mächtiger waren als ich.«
»Wie?« Die Kerze rutschte mir aus der Hand. Reflexartig schnappte ich nach ihr, erwischte sie und verbrannte mir die Hand an dem heißen Wachs, als die Flamme ausging.
Wir waren wieder im Dunkeln, doch die Dunkelheit wurde durch Mondlicht erhellt, das durch das geöffnete Fenster fiel. Der Rabe wich auf dem Fensterbrett zurück und tauchte in das rote Licht von Lunitari. Wieder legte er den Kopf schief und sprang ungeschickt in die Luft, wodurch er fast ohne Flügelschlag auf einem Pult landete.
»Hast du gedacht, ich würde die im Stich lassen, die… mir gehorcht haben? Ich würde dich den solamnischen Wölfen ausliefern?«
Die Stimme aus der Kehle des Raben klang flach und unharmonisch, doch ich erkannte sofort den Rhythmus und den beruhigenden Tonfall, der Eisen und Gift verbarg. Die Luft in der Bibliothek wurde kälter.
»Ich… habe darauf vertraut, daß Ihr zurückkommen würdet, Sir«, log ich zitternd.
»Du lügst.« Der Vogel hüpfte einmal nervös. »Aber ich bin trotzdem zurück. Ich brauche dich nämlich noch«, sagte die Stimme des Skorpions.
»Es ist mir eine große Freude, Euch zu Diensten zu sein, Sir, und laßt mich noch hinzufügen, daß…«
»Ruhe!« Die Stimme wirkte zu mächtig für den Vogel, zu mächtig für den ganzen Raum. Ich stieß beim Zurückweichen einen Stuhl um, der in einen Haufen Glasröhren und Retorten und Fläschchen mit weiß Gott was für Elixieren kippte.
»Du hast noch eine Menge für mich zu erledigen, Galen Pfadwächter. Eine Menge zu erledigen, um deine Haut zu retten.«
Das alles erschien mir gar nicht so bedrohlich, da es ein Vogel sagte.
»Was denn? Habe ich mich etwa noch nicht genug verstrickt? Bist du immer noch nicht zufrieden?« Ich stand wieder auf, wobei ich ein weiteres Becherglas umwarf.
»Kaum.« Der Rabe musterte mich kurz mit trüben Augen. »Weißt du, ich schließe meine Freundschaften fürs Leben, und du erwartest doch schließlich kein halbes Dutzend Opale für das bißchen, was du getan hast, oder?«
Ich wickelte mich in eine von Gileandos’ Roben; inzwischen war es wirklich kalt hier drin.
»Glaubst du, ich bin in dieser Gestalt gefangen? Glaubst du, ich könnte keine Schlange oder kein Leopard werden oder nicht die Gestalt deines zusammengerollten Freundes mit dem Stachelschwanz von neulich abend annehmen – erinnerst du dich an neulich abend?«
Ich nickte blöderweise, weil ich vergaß, daß es dunkel war.
»Vor ein paar Nächten hast du dich in Schulden gestürzt. Kleiner. Und mit der Rückzahlung hast du erst begonnen.«
»Möchtet Ihr die Opale zurück? Dann wären wir doch quitt.«
»Aber es geht nicht um ›quitt‹, Galen. Weil ich bei dem Geschäft nämlich meinen wertvollen Diener verloren habe – den Mann, der unten in eurem Kerker steckt und mir nicht länger dienen kann, da ich beschlossen habe, mich an die Regeln zu halten.«
»Wie bitte?«
»Also brauche ich einen neuen Diener, kleiner Galen, der den ersetzt, den ich verloren habe. Ich glaube, ich brauche nicht mehr hinzuzufügen, daß du dieser Diener bist.«
Ich war wie vom Donner gerührt. Mir fehlten die Worte.
»Also bist du es, der tun wird, was ich sage. Du wirst Sir Bayard auf seiner Reise nach Südsolamnia begleiten, auf dem Weg zu dem Turnier, das er unbedingt gewinnen will. Du wirst dich um seine Waffen, seine Kleider und seine Uniform kümmern – alles, was ein Knappe macht.
Und während deiner Reise mit Sir Bayard wirst du mir hin und wieder Informationen geben – kleine Tips bezüglich seiner nächsten Ziele, seines Gemütszustandes, was er als nächstes so vorhat. Vor allem wirst du dafür sorgen, daß du nur langsam vorankommst. Und Bayard Blitzklinge ebenfalls.«
Was war das denn für eine seltsame neue Wendung? Warum war ich so unglücklich, daß ich hierzu ausgewählt wurde.
»Das müßt Ihr schon mit meinem Vater ausmachen, Sir«, entgegnete ich erleichtert. »Ich bin nämlich fürs erste hier eingesperrt und sehe meiner Strafe entgegen. Ihr wißt ja, Ihr habt dafür gesorgt, daß Vater meinen Namensring in den Händen des Mannes in Schwarz gefunden hat und mich mit dieser ganzen üblen Geschichte in Verbindung gebracht hat. Nein, tut mir leid, Sir, aber ich sehe nicht, wie ich hier eine Hilfe sein kann. Ihr müßt Euch anderswo nach einer geeigneten Eskorte umsehen, auch wenn es mich betrübt, Euch in dieser Sache enttäuschen zu müssen.«
»Oh, aber ich werde nicht enttäuscht werden, junger Mann. Nein, nein, denn ich bin im Besitz deiner Freiheit.«
»Wie bitte?«
»Den Namensring. Da wir ja dabei waren, einander wichtige Dinge wiederzugeben.« Der Vogel flatterte genau auf mich zu. Ich zuckte zusammen, bedeckte mein Gesicht und fühlte dann das leichte Trippeln von Krallen auf meiner Schulter. Ich senkte den Kopf und starrte ihm direkt in die trüben Augen.
»Guck dir meine Füße an, du Idiot«, krächzte der Rabe.
»Mein Namensring! Ihr habt ihn ums Bein! Wie habt Ihr – «
»Ich habe ihn nie hergegeben«, erklärte der Rabe selbstgefällig. »Du bist zu Unrecht verbannt worden.«
»Und das soll ich Vater wohl einfach erzählen, damit er mich auf der Stelle herausläßt?« Mit dem Raben auf der Schulter ging ich zum Fenster.
»Natürlich nicht. Aber wenn er den Ring sieht und ihn mit dem vergleicht, den er schon hat, wird er erkennen, daß er beinahe wegen einer Fälschung einen Sohn verloren hätte.«
Der Vogel steckte seinen Kopf unter den Flügel, als das Licht des roten Mondes erneut über uns strich.
»Deshalb«, fuhr er fort, »weil Bayard ihm den Ring zeigen wird. Bayard wird den Ring noch heute nacht in seinem Zimmer finden. Er wird nicht nur für deine Freilassung sorgen, sondern seinen Fehler auch wieder gutmachen wollen.«
»Wie soll er das wieder gutmachen?«
Der Rabe breitete die Flügel aus und duckte sich. »Oh, du wirst schon sehen. Und wenn er es macht, wirst du wissen, was zu tun ist.«
Damit schwang er sich in die Nachtluft, flatterte über den Hof, bis er irgendwo hinter der Wasserburg verschwand.
Wieder schlief ich unruhig, denn meine Träume waren voller Skorpione und von schrecklichem Flügelschlagen erfüllt. Und ich erwachte mit demselben unguten Gefühl – daß ich wieder nicht allein war.
Vorsichtig sah ich mich um und sah an der Tür der Bibliothek eine Kerze flackern. Dahinter stand eine große Gestalt.
Ich griff an meinen Gürtel und tastete verzweifelt nach meinem Messer. Erst da fiel mir ein, daß man es mir schon vor meinem Kerkeraufenthalt abgenommen hatte.
»Wer ist da?« Diesmal lag etwas mehr Festigkeit in meiner Stimme. Ich versuchte, einen drohenden Ton anzuschlagen, doch das mißlang.
Die Kerze wurde hochgehoben, und die einzige Lampe in der Bibliothek ging an.
Darunter stand Sir Bayard Blitzklinge, umgeben vom rotgoldenen Schein der Lampenflamme und mit dem schon bekannten halb erstaunten, halb amüsierten Gesichtsausdruck.