Das machte mich schrecklich nervös.
Ich dachte daran, was Gileandos über den Wächtersumpf gesagt hatte: Etwas, das so schnell wächst, wächst wie ein Junge, und darum kann man ihm nicht trauen. Dabei hatte er auf die Karte gezeigt, wo sich der Sumpf im Süden der Wasserburg meilenweit erstreckte. Natürlich hatten wir von den Pächtern Geschichten gehört, von Tieren, die unnatürlich groß wurden oder sich ungewöhnlich veränderten und in den Ausläufern des Sumpfes herumstrichen. Es gab Gerede von Krokodilen ohne Beine und großen, fleischfressenden Vögeln ohne Augen, weil sie in der grünen Dunkelheit des Sumpfes keine Augen mehr brauchten. Angeblich bewegten sie sich linkisch, aber schnell mit Sprüngen zwischen den Zedern und Zypressen, da ihre Flügel in einem Gelände voller Äste und Blätter nutzlos waren.
Und dann gab es natürlich noch das Gerede von den menschenfressenden, fliegenden Fischen.
An den Geschichten war zwar vielleicht nicht viel Wahres dran, aber andere Dinge waren zweifelsohne richtig. Ich wußte sie aus erster Hand. Denn wir hatten in den dunklen Tiefen des Sumpfes Pächter, Diener und hin und wieder einen oder zwei Besucher verloren. Es hatte sogar mal eine Gruppe von Gästen – fünf Zwerge aus Granat, die Vater in dem Sommer besuchen wollten, als ich sieben wurde – den Rand des Sumpfes erreicht, wo sie lagern und den Abend in Sicherheit verbringen wollten, weil sie die gefährliche Reise lieber nicht im Dunkeln fortsetzen wollten. Am nächsten Morgen sahen sie sich vom Sumpf umgeben, der sie in der Nacht überwuchert hatte.
Zwei aus der Gruppe fehlten, und obwohl Vater am gleichen Nachmittag und auch am nächsten Morgen noch die Ausläufer des Sumpfes durchsucht hatte, und zwar mit Dienern und Fackeln und Hunden und lautem Rufen, haben wir nie erfahren, was aus diesen Zwergen geworden ist. Genau wie bei jedem anderen, der in den Sumpf geriet und sich verirrte.
Solche Ereignisse ließen einen gesunden Respekt aufkommen, verursachten sogar Angst vor dem grünen Fleck, den Gileandos auf die Karte in seiner Studierstube gemalt hatte. Jedes Frühjahr vergrößerte er den Fleck, wenn das Sumpfland mehr Land geschluckt hatte.
In dieser Nacht schliefen wir unruhig. Ich wachte mehrfach auf und sah immer Bayard am Rand der Lichtung und am Rand des Scheins von unserem kleinen Feuer auf und ab laufen. Die Hände hielt er auf dem Rücken, als wenn sie gefesselt wären. Durch diesen Baldachin aus Blättern und Schlingpflanzen waren keine Sterne zu sehen, so daß die Nacht hier unten – bis auf das Feuer – finster war.
Nachdem ich am frühen Morgen endlich fest eingeschlafen war, wachte ich plötzlich auf. Bayard hatte sich über mich gebeugt und sah mich nachdenklich an.
»Sir?«
»Galen, wenn morgen eine… strenge Bestrafung ansteht…«
Eine Sekunde lang jubelte ich innerlich. Ich hoffte inständig, daß der innere Anstand meines Gefährten ihn zwingen würde, das Gewicht dieser Strafe zu tragen, ganz gleich, wie schwer, und ein Schlupfloch für mich zu finden, durch das er mich unversehrt zu Vater zurückschicken konnte. Doch sein Anstand zwang ihn zu anderen Dingen.
»Wenn wir streng bestraft werden, wäre ich beruhigter, wenn ich wüßte, daß du etwas, das ich gesagt habe, nicht falsch verstehst.«
»Ja, Sir?«
»Wegen Lady Enid.« Er stand langsam wieder auf.
»Eure Zukünftige, Sir?«
»Ja. Genau das meine ich auch. Denn, weißt du, Lady Enid ist nicht wirklich meine Zukünftige.«
»Nicht?«
»Ich meine, ich bin nicht mit Lady Enid verlobt oder so.«
Dafür hatte er mich geweckt?
»Aber Ihr habt gesagt, Ihr sollt sie heiraten.«
»Aber wir sind nicht verlobt«, betonte Bayard, um sich dann zum anderen Ende der Lichtung hin umzudrehen, wo ein anderes kleines Feuer brannte und die Zentauren sich immer noch beratschlagten.
»Es ist mehr wie eine Bestimmung.«Ich erwachte durch einen groben Schubs. Ich wollte den Diener oder Alfrik oder wen auch immer anschreien, zu verschwinden und mich bis zu einem anständigen Zeitpunkt in Ruhe zu lassen, sagen wir mal, so bis zum frühen Nachmittag. Aber ich blickte im verschwommenen grünen Licht in das strenge, bärtige Gesicht eines Zentauren und entsann mich meiner Manieren.
Bayard stand zwischen Agion und dem Zentauren, dessen Arm im gestrigen Kampf verletzt worden war. Mein bärtiger Begleiter ging hinter uns, als Agion mich an der Schulter faßte und der verletzte Zentaur Bayard hinten an der Tunika ergriff. So wurden wir zum anderen Ende der langen Lichtung halb geschleppt, halt geführt. Dort erwartete uns unser Urteil.
Die Eskorte lieferte uns vor Archala und den anderen Zentauren ab, mit denen er sich beraten hatte.
Der Mann, dem Bayard im Kampf die Nase blutig geschlagen hatte, war eine Art Herold. Er sah uns grimmig an, wischte sich das Blut von der Oberlippe und begann zu sprechen.
»Alles steht gegen Ihn«, verkündete er mit näselnder Stimme, was sicher auf den Zustand seiner Nase zurückzuführen war. Ich hätte das Näseln lustig gefunden und hätte bestimmt gelacht, wäre die Nachricht nicht so ausgefallen, daß alles gegen mich stand.
»Wir fürchten, daß die Rüstung ein außerordentlich starker Beweis ist«, erklärte er. Dann machte er eine Pause, und man konnte seinem Gesicht ablesen, daß er entzückt war, daß jemand, der seine Nase verändert hatte, Durchsuchung und Festnahme verdient hatte.
»Aber dennoch«, fuhr der Herold mit dem fort, was für ihn offenbar schlechte Nachrichten waren. »Archala hat auf den alten Gesetzen bestanden, wie es die Tradition und die Weisheit fordern. Denn er sagt, daß Seine Worte aus ehrlichem Herzen und untrügerischem Verhalten erwachsen.«
Das regte die anderen ungemein auf, außer Agion, der die Vorgänge aus etwas Entfernung voller Bewunderung verfolgte.
»Nichtsdestotrotz«, brüstete sich der Herold, der jetzt deutlich seine Nase zu schonen suchte, »nichtsdestotrotz macht die Sache mit den Satyren – mit Seinem Bündnis mit den Satyren – uns allen zu schaffen.«
»Nicht mehr als uns, Meister Archala«, unterbrach ihn Bayard, wobei er an dem Sprecher vorbeiblickte und den alten Zentauren persönlich ansprach. »Besonders da wir, wie ich schon sagte, nichts von diesen Satyren oder Ziegenmenschen oder wie auch immer Ihr sie nennt, wissen. Und ebensowenig, warum Ihr uns eines Bündnisses mit jemandem verdächtigt, den wir nicht kennen.«
»Ich brauche nicht daran erinnert zu werden, daß Er sich zu diesem Punkt bereits geäußert hat, Sir Ritter«, entgegnete Archala mit geduldigem Lächeln. »Natürlich wird Er verstehen, warum wir… solche Erklärungen anzweifeln, wenn zwischen den Satyren ein Ritter in genau der Rüstung ritt, die Er auf Seinem Packpferd hatte, als wir Ihn auf der Straße aufgriffen – und es war ein Anführer, wie wir durch die erhobenen Waffen sehen konnten.«
Bayard wollte protestieren, aber Archala hob seine riesige Hand und gebot ihm Schweigen, bevor er weitersprach.
»Aber Seine Rüstung war gestohlen. Wie Er sagt. Sie war eine Zeitlang nicht bei Ihm. Wie Er sagt. In dieser Zeit konnte der Dieb natürlich mit unseren Feinden gemeinsame Sache gemacht haben. Wie Seine Geschichte uns glauben machen will. Gewiß begreift der Sir Ritter, warum ich ungern das Schicksal meines Volkes aufs Spiel setze. Doch unser Urteil über Seine Schuld oder Unschuld soll auf einer Prüfung von sieben Tagen und sieben Nächten basieren, in denen Er bei uns, unter unseren wachsamen Augen bleibt. Dann werden wir vielleicht sehen, welchen Einfluß Seine Anwesenheit auf die Satyre hat.«
Archalas Urteil gefiel niemandem wirklich.
Die Zentauren standen hinter Archala und waren offensichtlich bereit, uns an den Knöcheln zu schnappen und zum nächsten Wasserlauf zu tragen. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß Agion unser Wächter sein würde, weil niemand sonst diese Aufgabe übernehmen wollte.