Wie auch immer, schließlich lag ich auf festem Grund. Ich war so dick in Blätter eingepackt, als wäre ich eine Elfenspeise. Während sich meine Sinne von der Anstrengung und dem Schock erholten, schnappte ich nach Luft und lauschte auf den Lärm von etwas hinter mir im Dunkeln – ein Lärm, der sich über die schmatzenden Laute des Lochs erhob, durch das ich gerade hindurch gekommen war.
Es waren Hilferufe. Die inzwischen recht vertraut klangen. Aber dieses Mal waren es nicht meine. Alfriks Schreie – mitleiderregend, ja, aber Musik in meinen Ohren.
»Galen, bist du da draußen? Galen? Hilf mir!«
Ich saß auf der herrlich trockenen Erde und entfernte die herrlich starke Liane von meinem Ellbogen.
»Hilf mir! Ich weiß, daß du da bist! Vaters Rüstung ist schwer, ich gehe unter!«
Rasch knotete ich ein Lasso aus der Liane.
»Galen, bei Paladin und Majere und Mishakal und Branchala…«
Seine Stimme verlor sich. Alfrik war immer schlecht in Religion gewesen; offenbar waren ihm die Götter ausgegangen.
»Was soll ich denn machen?« rief ich über den Treibsand.
»Wirf etwas in diesen Schlamm oder Treibsand oder was auch immer es ist. Etwas, woran ich mich festhalten und rausziehen kann.«
»Alfrik?«
»Was ist, Galen? Beeil dich! Im Augenblick sinke ich nicht weiter, aber ich stecke bis zum Bauch drin!«
»Was springt für mich dabei raus, großer Bruder?«
Stille über dem Sumpf.
»Aber«, fuhr ich fort, »da wäre natürlich die brüderliche Liebe, die ich so hoch halte…«
»Hör auf, mit mir zu spielen, du verdammtes Wiesel, und wirf die Rettungsleine her!«
»Etwas mehr… Respekt da draußen, Alfrik! Na gut. Hier ist eine Liane, ich werfe sie dir zu. Ich weiß natürlich nicht, ob ich damit so weit komme, ob sie überhaupt bis zu dir hin reicht, oder ob du sie in der Dunkelheit sehen kannst, aber deine Chancen steigen von Null auf Winzig.«
Ich warf die Liane in seine Richtung.
»Hab Vertrauen, Bruder. Wie du selber sagtest, hier im Sumpf wächst alles schnell. Wenn die Liane nicht bis zu dir reicht, dann wächst sie dir vielleicht entgegen. Und wenn nicht, dann hast du ja sicher den Boden des Treibsands erreicht. Bleib einfach da stehen, bis jemand vorbeikommt.«
Ich drehte mich um und lief in die Finsternis. Ich wußte zwar nicht wohin, doch ich spürte ein tiefes, befriedigendes Gefühl von Gerechtigkeit in mir.
Was Alfrik mir nachrief, sollte ich hier nicht wiederholen. Ich nehme an, ich verdiente all die neuen Namen, die er erfand. Schließlich verließ ich mich auf die Annahme – und nur darauf –, daß er vielleicht aus dem Sumpf herauswaten konnte, in dem ich ihn steckengelassen hatte. Wenn er ein bißchen schlimmer dran war, als ich dachte, wenn Vaters Rüstung etwas schwerer war, als ich glaubte… nun, es beruhigte mich, mir vorzustellen, daß meine Strafe wohl nicht so bald eintreten würde. Zumindest nicht durch seine Hände. Nur für den Fall, daß die Liane und die Dunkelheit Alfrik im Stich ließen und ich dann Schlimmeres verdient hätte als bloße Beschimpfungen. Ich lief zuversichtlich in die Dunkelheit, weg von dem Fluchen und Schreien und schließlich Kreischen meines Bruders. Finsternis stellt jedoch alle möglichen schrecklichen Dinge mit Zuversicht an. Es war so eine Nacht, die dem Reisenden nichts zu bieten hatte, die man am besten verschlief oder abwartete. Um mich herum verebbten allmählich Alfriks Rufe und Flüche, um von anderen, unklareren Geräuschen ersetzt zu werden, die bedrohlicher waren: schnelles Rascheln und noch schnellere Bewegungen; Wesen, die ich nicht sehen konnte, platschten und schwammen im Wasser, das ich nicht sehen konnte; das Murmeln von fließendem Wasser; dazu das gelegentliche, unheimliche Keckem irgendwelcher Sumpfvögel. Ich war praktisch verloren.
Nach etwa einer Stunde verlief sich der Weg, dem ich gefolgt war, einfach im Nichts. Nur noch ein gewundener Wildpfad zog sich durch das Schilf. Ich blieb an dem rasch enger werdenden Pfad stehen und fragte mich, was für ein Tier diesen Weg wohl getrampelt hatte. Da ich keine andere Wahl hatte, ging ich in dieselbe Richtung weiter. Beziehungsweise bald ganz ohne Richtung und ohne das Gefühl, daß schon einmal jemand oder etwas vor mir hier gewesen war.
Mir fiel einer von den Ratschlägen ein, mit denen mich Vater beim Abschied von der Wasserburg bombardiert hatte. Also bückte ich mich und prüfte den Stamm einer Zypresse. Moos auf allen Seiten. Norden war anscheinend überall.
Ein Schnauben schreckte mich auf und ließ mich nach meinem Schwert greifen. Mir schwante Übles. Ich ergriff den Stamm der Zypresse, um schnell dahinter zu verschwinden, sobald mir klar wurde, wo hinten war – wo das Geräusch eigentlich hergekommen war.
Ein lauteres Schnauben und ein merkwürdiges Rascheln folgte. Es schien von irgendwo links unten zu kommen. Vorsichtig schlich ich nach links, obwohl ich auf Zentauren oder Satyre oder die berüchtigten fleischfressenden Vögel gefaßt war, die diesen Sumpf angeblich bevölkerten. Auf Händen und Knien kroch ich auf die Geräuschquelle zu.
Aber offenbar nicht langsam genug. Ich war erst drei Meter gekrochen, als unter meinen Händen der Boden vor mir nachgab. Einen Augenblick hockte ich über einem gähnenden Schlund aus Schlamm und plattgedrücktem Schilf und blickte auf eine noch dunklere Lichtung, wo etwas Großes, Undefinierbares sich glitzernd bewegte.
Als mir dämmerte, daß ich da unten nicht hin wollte, hatte ich keine Wahl mehr, denn ich rutschte schon Hals über Kopf die matschige, von Laub bedeckte Oberfläche hinunter, um in einer nassen Senke zu landen.
Wo etwas Riesiges herumplantschte und schnaubte.
Einen Moment lang verhielt ich mich still, denn ich kannte die alte Geschichte, daß Raubtiere einem nichts tun, wenn sie einen für tot halten. Ich hoffte inständig, daß das Raubtier glauben würde, ich wäre bei dem Sturz umgekommen.
Ich lag also reglos da und vernahm nur das Atmen und die langsamen Bewegungen eines großen Tieres. Dann spürte ich einen warmen Atem an meinem Hals. Etwas nicht sehr Raubtierhaftes beschnüffelte mich. Es war wie ein Hund oder ein Kalb…
Oder ein Pferd.
Ich drehte mich schnell auf den Rücken und starrte in die aufgerissenen Augen des Packpferds.
Wir waren schon eine Weile unterwegs, zerrten an uns herum und traten nacheinander. Ich versuchte, die störrische Stute durch das dichte Unterholz zu lenken, und sie, die mein Gewicht und das der Rüstung zu tragen hatte, bemühte sich, eins davon auf dem schlammigen Sumpfboden zurückzulassen. Als die Dunkelheit endlich über uns aufriß, klammerte ich mich nur noch an ihr fest. Doch das war noch nicht die Dämmerung, bis dahin war es noch Stunden hin. Das grüne Licht in den Bäumen sah auch nicht aus wie Sonnenlicht, das durch Blätter und Nadelbäume gefiltert wurde – an diese frische Farbe würde ich mich in finstereren Zeiten auf der Straße noch sehnsüchtig erinnern. Statt dessen war es ein zaghaftes, ungesundes Grün, das zu einem Gelb bis Schmutzigweiß verblaßte, das ich in der Natur noch nie gesehen hatte, wenn es nicht gerade die Farbe eines Schlangenleibs war.
Es war die Farbe von Phosphorwasserstoff. Heute weiß ich das, doch damals hatte ich solche Lichter in der Wildnis noch nie gesehen.
Die Elfen nennen dieses Phänomen »Mitternachtsfeuer«, und es sind die selbstentzündeten Gase, die aus den Überresten toter Dinge entstehen, die ein Sumpf verschlingt. Phosphorwasserstoff gibt erst dann Hitze ab, wenn er kondensiert, wenn er aus dem Röhrchen der Destille tropft (wie der in Gileandos’ Bibliothek, die er natürlich selten benutzte, um Phosphor zu destillieren. Ein experimentierfreudiger Schüler jedoch konnte sie auf eigene Weise verwenden, wie sein leuchtender Abschiedsgruß auf den Zinnen bewiesen hatte).
In flüssigem Zustand ist Phosphorwasserstoff hoch brennbar und entzündet sich bei Luftkontakt innerhalb von Minuten. Als Gas ist er nur eine harmlose Lichtquelle ähnlich dem fluoreszierenden Pulver, das im Bauch eines Glühwürmchens zu finden ist. Allerdings wird er dichter und sieht heller und lebhafter aus, je weiter man ins Zentrum eines Sumpfes und das Zentrum all der Toten, die er über die Jahre verschlungen hat, vordringt.