Es war eine hübsche, aber eintönige Landschaft.
Beim Rückblick auf das Sumpfland, das wir gerade verlassen hatten, zog ich sie doch dem verstrickten und verstrickenden Geheimnis hinter uns vor. Ich hatte noch nie so viel Land überblickt, denn ich war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Beim Zurücksehen fiel mir auf, daß der Sumpf sich veränderte, jedoch nicht durch das rasche Wachstum, das uns bei unserem Aufenthalt darin eine Quelle der Verwunderung und des Ärgers gewesen war. Jetzt wurde der Sumpf von außen her braun und welk. Ich wußte, daß das etwas mit dem Verschwinden des Skorpions zu tun hatte, aber es kam mir auch so vor, als ob unser Abschied dem Land den Herbst gebracht hatte.
Auch war der Sumpf ja nicht alles, was wir zurückließen. Ich dachte an Brithelm, der uns zum Abschied von der Plattform aus zugewinkt hatte, als wir die kahle Lichtung in der Mitte des Sumpfes verlassen hatten. Er hatte bei den Ziegen und Moskitos in seiner Eremitage bleiben wollen, um zur Ruhe zu kommen und über die Erhabenheit der Götter nachzusinnen.
Ich wünschte Brithelm nichts Böses, obwohl ich mächtig froh war, ihn los zu sein. Er war einfältig und schwer zu ertragen, aber wahrscheinlich eindeutig der Beste aus dem armseligen Wurf der Pfadwächter, mich selbst eingeschlossen. Das Problem war, daß die Welt mit einem eindeutig Besten nichts anzufangen wußte. Dort im Sumpf, wohin das Schicksal sie verschlagen hatte, waren meine beiden Brüder am besten aufgehoben.
Dennoch erinnerte ich mich wehmütig an den Abschied, als mein seherischer, mittlerer Bruder von Ziegen umringt gefährlich nah am Rand der rutschigen Plattform stand und uns dreien hinterhersah.
»Sieh den Dingen nicht direkt ins Auge, Bruder, denn die Einsicht lebt im Augenwinkel«, schrie er uns einen letzten Rat für die Reise zu.
»Was soll das heißen, heiliger Mann?« rief Agion zurück, doch Brithelm hatte uns schon den Rücken zugekehrt und war in der baufälligen Hütte verschwunden.
Bei meinem letzten Blick auf Brithelm, bevor er durch die wacklige Tür verschwand, hatte er etwas Silbernes aus der Tasche gezogen und an die Lippen gesetzt.
Humas Hundepfeife.
Von überallher kamen Ziegen zur Hütte geströmt.
Ich saß auf Agions Rücken, und etwas bedrückt wandte ich mich nach vorn – nach Osten, zur Zukunft meiner Reise.
»So ist es besser, Galen«, sagte Bayard, und ich hatte keine Ahnung, was für ein Tadel mich jetzt erwartete. »Schau lieber nach vorn, als zurück, denn hinter dir liegen Treibsand und Morast, die leicht deine besten Absichten verschlingen können.«
Was war das denn? Wußte er über Alfrik Bescheid? Ich schwieg und betete heimlich, daß die Ehre, die er so schätzte, ihn davon abhalten würde, zu vermuten – oder gar zu glauben –, daß ich meinen Mistkerl von Bruder hatte ersaufen lassen.
Aber, nein, das war nur ein bißchen Philosophie zum Auftakt einer langen, verworrenen Geschichte mit Thronräubern und viel Gewalt, die mir zeigen sollte, wie unmenschlich Menschen sein können. Zeitweise würde sie sogar ein bißchen interessant werden, aber mitunter sollte ich mir wünschen, Agions Talent, völlig abzuschalten, zu besitzen. Doch diese Geschichte muß erst noch erzählt werden.»Das dritte Kapitel im Buch von Vinas Solamnus, dem langen Text, der nur in der Bibliothek von Palanthas vollständig erhalten ist, befaßt sich mit dem Schicksal der Familie di Caela – von dem Zeitpunkt ab, wo sie auf geheimnisvolle Weise durch Paladins Tore aus dem Norden kamen. Von dem Zeitpunkt ab, als der Begründer der Linie, der alte Gerald di Caela, sich Vinas Solamnus anschloß und sein Name in die älteste und ehrwürdigste Ritterschar aufgenommen wurde.«
Genau wie die Blitzklinges, die auch schon früh dazugehört hatten und stolz darauf waren.
Wohingegen die Pfadwächter, wie ich wußte, Nachzügler waren. Bayard war viel zu höflich, um das zu erwähnen, jedoch hatte man uns schon frühzeitig eingetrichtert, wie es unser Leben beeinflussen würde, daß wir nicht zu dem Dutzend oder so der ältesten Sippen gehörten.
»Und so gedieh die Familie geehrt und berühmt über tausend Jahre lang, bis vor ungefähr vierhundert Jahren der Titel – der Name di Caela, sozusagen der Pater familias – an einen Gabriel di Caela fiel. Der alte Gabriel hatte anscheinend drei Söhne. Der älteste hieß Dunkan, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, und der jüngste war auch ein Gabriel. Aber es ist Benedikt di Caela, der mittlere Sohn, der im Zentrum dieser düsteren, bedrückenden Geschichte steht – von Geburt an durchs Schicksal enterbt.«
Agion beugte sich beim Gehen vor, rieb sich die knorrigen Hände und lächelte. »In den alten Sagen«, erklärte er, »erhält der mittlere Sohn meist eine besondere Gabe. Am Anfang sieht es so aus, als ob er wenig bekommt, doch am Ende hat er das beste Erbe von allen.«
»Aber was wir jetzt hören, ist wahre Geschichte, Agion«, unterbrach ich ihn, »wo der mittlere Sohn wahrscheinlich der ist, der einfach übergangen und ausgelassen wird, wenn diesem Dunkan aus Sir Bayards Geschichte nicht ein vorzeitiges Unglück widerfährt. Außerdem ist es gewöhnlich der Jüngste, der im Märchen am meisten beschenkt wird, weil er im richtigen Leben am wenigsten bedacht wird.«
Bayard setzte sich im Sattel zurück und schlug gegen den kalten Nachmittagswind die Kapuze über. »Ihr liegt beide falsch«, stellte er kurz angebunden fest. »Vielleicht solltet ihr besser zuhören, anstatt eure haarsträubenden Theorien über Gerechtigkeit weiter auszuspinnen. Die Geschichte dieses Benedikt also«, nahm er den Faden wieder auf, wobei er die Zügel in die andere Hand nahm, »begann mit Neid, und soweit ich weiß, endet sie auch damit. Er wollte seine Brüder unbedingt aus dem Weg räumen, dort im Schloß des alten Gabriel – dem Kastell di Caela, wie es genannt wurde.
Dort schmiedete der junge Benedikt seine Pläne, ›die Gedanken giftdurchtränkt‹, wie das alte Buch von Vinas Solamnus sagt. Aber zur damaligen Zeit hatten die Kleriker von Mishakal Möglichkeiten, die Ausbreitung von Gift zu verhindern und seine Wirkung sogar umzukehren. Selbst wenn sie zu spät kamen und das Giftopfer tot vor ihnen lag, so daß sie es weder heilen noch wiederbeleben konnten, konnten sie immer noch das Gift aus dem Blut isolieren, seine Bestandteile bestimmen und feststellen, wann es verabreicht wurde, und wer es gemischt hatte.
Wenn das nichts half, konnten sie die Toten reden lassen und so den Mörder finden. Also wurde der junge Benedikt jahrelang nur im Traum zum Giftmischer, denn er war viel zu feige, um einen offenen Mord zu begehen. Statt dessen saß er abseits, brütete vor sich hin und wälzte Rachepläne. – Das größte Gift ist zweifellos der Neid«, verkündete Bayard, wobei er mich betont anstarrte und damit eine Antwort forderte.
»Nun, Sir, ich würde Schierling ein stärkeres Gift nennen, denn neidische Männer leben meines Wissens jahrelang. Aber ich bin kein Apotheker und für Chemie nicht begabt.«
»Und auch nicht für Metaphern«, gab Bayard zurück, um dann seine Geschichte wieder aufzunehmen.
»So hat sich Benedikt dort in diesem Schloß gewissermaßen – metaphorisch gesehen – selbst vergiftet, indem er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Und wenn jemand so durch und durch in Wort und Tat vergiftet ist, kann er auch nur vergiftete Entdeckungen machen. Jede seiner Berührungen ist wie Gift.«
»Wie beim Skorpion?« fragte ich und wünschte mir augenblicklich, ich könnte diese Worte zurücknehmen. Denn ich hatte meinem Fluch in diesem Moment einen Namen gegeben und enthüllt, daß ich mehr über den Mann in Schwarz wußte, der die Wasserburg und den Sumpf heimgesucht hatte. Mehr als ein ehrlicher Junge wissen durfte. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen.
Aber ich hörte Agion hinzufügen: »Oder wie bei der Viper.« Als ich aufblickte, sah ich Bayard zustimmend nicken.