»Oder wie bei den giftigen Wesen aus Legende und Geschichte, Agion. Ja, man könnte sagen, daß Benedikt gewissermaßen eines dieser Wesen war.
Denn das Gift hatte ihn vollkommen durchsetzt, bis selbst Gegenstände, die er zum Besten aller hätte verwenden können – die ihm vielleicht wirklich ein Erbe hätten einbringen können, das weit über das seiner Brüder hinausging –, in seinen Händen statt dessen zu monströsen, verfluchten Dingen wurden. Wie bei dem Pendel.«
Pendel? Da war doch was…
»Gefunden hat er es«, erzählte Bayard, »im Keller von Kastell di Caela, das er so begehrte, während er in der Dunkelheit nach einem Ort suchte, wo er seine abstrusen und immer verrückteren Illusionen üben konnte. Er drückte das Pendel an sich und vergaß es für eine Zeitlang. Das heißt, bis er es ans Licht schaffte und in seine Räume oben im Schloß brachte. Dort zog er es aus den Falten seiner Robe und sah es zum erstenmal an. Die Kette war aus Gold, und der Anhänger der Kette war ein Kristall.«
Ein Kristall. Bayards Worte trafen mich wie das Licht von hundert Sternen in der Dunkelheit. Ich erinnerte mich an den Sumpf, die Lichtung, die Ziegen, die vielen Feuer…
»Und als das Pendel vor seinen Augen baumelte, dachte Benedikt seine giftigen Gedanken, träumte seine Träume von Unfällen. Als er durch den Kristall sah, wuchs eine Spinne in der Ecke des Zimmers zu unnatürlicher Größe und Gestalt heran…«
Wie die Ziegen, die sich plötzlich widernatürlich in Satyre verwandelt hatten.
»Und wäre gewiß aus ihrem Netz gekrabbelt und hätte ihn vergiftet, wenn er nicht noch einmal hingesehen und erkannt hätte, was das Tier wirklich war – die ganz normale Spinne, die er schon zwei Tage in der Ecke des Zimmers beobachtet hatte.«
Bayard legte eine Pause ein und sah Agion an.
»Diese Geschichte von der Spinne erklärt den Fluch der di Caelas – oder gibt zumindest den uns bekannten Ursprung an.«
Ich war baff.
Nein! Bestimmt hatte diese alte Kamelle aus dem Buch von Vinas Solamnus nichts mit dem zu tun, was ich vor zwei Nächten auf der Lichtung im Sumpf beobachtet hatte. Bestimmt hatten die Bücher nichts…
Bayard nahm seine Geschichte wieder auf.
»Durch diesen zufälligen Blick wußte Benedikt also, daß das Pendel ein Instrument der Macht war. Aber woher stammte es? Darüber sind sich die Historiker uneinig.
Manche sagen, ein Kender hätte es fallen lassen, der es Gott weiß wo gefunden hatte, denn Kender gab es damals wie heute. Manche meinen, das Pendel sei durch Zufall oder durch einen großen, bösen Plan aus dem Eckstein des Schlosses freigekommen, wo es Generationen hindurch verborgen lag, um auf jemanden zu warten, der so neidisch und so verschlagen war, daß er es seiner Bestimmung gemäß verwenden konnte. Aber natürlich gibt es viele derartige Legenden auf Krynn.
Spielt das wirklich eine Rolle? Denn am Ende war es dasselbe, ob Benedikt nun aus dem Bösen heraus handelte, das durch seine eigene Unzufriedenheit, seinen Neid und seine eigenen frühen, dunklen Studien in ihm gewachsen war, oder ob er als Instrument eines größeren Bösen handelte, das in die Geschicke der Welt eingriff.
Kleines oder großes Böses, auf jeden Fall nahmen die Ratten im Keller neue, monströse Formen an, als Benedikt das Pendel aus Gold und Kristall vor seinen Augen schwang. Der Legende nach suchten sie auf Benedikts Befehl hin Dunkans Zimmer auf, und als der alte Gabriel die Schreie seines Ältesten hörte und zu seiner Rettung stürmte, bot sich ihm eine so unaussprechlich grauenvolle Szene dar, daß die Geschichten vor dem genauen Bericht zurückscheuen.
Doch dieselben Historiker bestätigen, daß Dunkans Körper nicht eine Schramme aufwies, sondern daß er so unversehrt und schlicht dalag, daß die Einbalsamierer ihre groteske, unschöne Aufgabe nicht durchführen wollten, weil sie Koma, Lähmung oder Scheintod befürchteten. Aber er war wirklich tot, und die Kleriker von Mishakal konnten weder Wunde noch Gift entdecken.«
Wie bei den Zentauren aus Agions Erzählung.
»Gabriel der Jüngere jedoch witterte sozusagen eine Ratte«, lächelte Sir Bayard und hob die Hand. »Er war in der Nacht, wo Benedikt das Pendel entdeckt hatte, am Fuß der Granatberge auf der Jagd gewesen – in der Nacht, die seither in Solanthus und den umliegenden Teilen von Solamnia als ›Nacht der Ratten‹ bekannt ist.
Obwohl die Kleriker in Dunkans Zimmern nichts fanden, was auf Verrat hinwies, wußte Gabriel der Jüngere, daß es Verrat war, und benachrichtigte seinen Vater, daß die Kleriker von Mishakal Dunkan von jenseits der Finsternis sprechen lassen sollten.
Der alte Gabriel schreckte davor zunächst zurück, wie das wohl jedem Vater so geht. Denn in diesem Tun lag etwas Gewaltsames, es war ein störender, widernatürlicher Eingriff, selbst wenn er von Klerikern in weißen Roben und mit den allerbesten Absichten durchgeführt wurde. Aber sein jüngster Sohn drängte nur um so leidenschaftlicher und sagte: ›Viel widernatürlicher ist es, Vater, daß der Bruder aufsteht und um des Erbes willen den Bruder ermordet.‹ Der alte Gabriel ließ sich überreden und befahl den Klerikern, Dunkan in jener Nacht in der Gruft sprechen zu lassen.
Inzwischen versteckte sich Gabriel der Jüngere in den Bergen.
Sein einziger gebliebener Bruder blieb in Kastell di Caela und erwartete die Zeremonien zum Abend der Tag- und Nachtgleiche, wo sich die Priester versammelten. Ob er des Mordes schuldig war oder einer subtileren Untat, die niemand genau benennen konnte, konnte niemand herausfinden. Und wir werden es auch niemals mit Sicherheit wissen.
Auf jeden Fall brach in der Nacht vor der Beschwörung ein wütendes Feuer in der Gruft aus, das auf Brandstiftung zurückging. Die Roben, die man in Benedikts Zimmern fand, waren am Saum angesengt und rochen verdächtig nach Lampenöl, Phosphor und Asche.
Der Körper war natürlich auch zu Asche verbrannt und konnte nicht mehr zum Sprechen gebracht werden. Jetzt war der alte Gabriel außer sich, weil er ganz sicher war, daß sein mittlerer Sohn ein Verbrechen begangen hatte. Darum sang man in der Nacht der Tag- und Nachtgleiche in der Kapelle von Kastell di Caela vor sechzig Rittern von Solamnia und zwanzig Klerikern der Mishakal die Totenklage für Dunkan di Caela. Und auch die Totenklage für Benedikt di Caela.«
»Das verstehe ich nicht«, unterbrach Agion. »War Benedikt tot?« Der Zentaur kratzte sich verwirrt den Kopf.
»In jener Nacht erklärte Benedikts Vater ihn trotz eindringlicher Proteste seitens Ritterschaft und Klerus für tot und ernannte Gabriel den Jüngeren zum einzigen überlebenden Erben von Kastell di Caela. All das, ohne daß es jemals einen halbwegs stichhaltigen Beweis für die Schuld von Benedikt di Caela gegeben hat.
Der sich zugegebenerweise in den folgenden Tagen nicht gerade so verhielt, als wäre er unschuldig. Benedikt floh aus dem Schloß, um in den Ländereien nördlich von Solanthus eine Armee aufzustellen – eine Armee aus Dieben, Goblins und den Kopfgeldjägern, die dem Königspriester von Istar Goblinköpfe bringen sollten. Es war jedenfalls eine unrühmliche Mannschaft, die sich aufmachte, um Steuern einzutreiben, zu erpressen und in den Südwestprovinzen von Solamnia Benedikts Befehle zu befolgen.«
»Hat jemand Benedikt unterstützt, als er diese Armee aufstellte?« fragte Agion, dessen Gesicht im schwindenden Licht des anbrechenden Abends nicht mehr ganz zu erkennen war. »Ich meine, welche von den Rittern und Priestern?«
»Die meisten Priester – gewiß nicht jeder Priester, aber auf jeden Fall die Mehrheit –, durchschauten Benedikts Illusionen und sahen die Ratten und Spinnen dahinter. Und zudem sahen sie, daß es Benedikt war, der diese Illusionen erschaffen hatte. Aber es gab viele Ritter, die angesichts der Legionen, die er sammeln konnte, auch Macht für sich selbst witterten oder – was noch schlimmer war – eine Gefahr sahen, der sie sich nicht auszusetzen wagten.
Ich schäme mich zuzugeben, daß seine Reihen nicht frei von meinen Mitbrüdern waren. Ritter von Solamnia standen an der Spitze seiner Scharen und widersetzten sich damit ihren heiligsten Eiden.«