Sir Robert steigt die Turmtreppe hinunter. Es ist Zeit, das dreitägige Fest zu eröffnen, bei dem er seine Tochter als Preis vergeben wird. Und mit ihr seinen Namen, denn in der nächsten Generation wird dieser Ort nicht länger Kastell di Caela heißen – so viel ist sicher.
Kastell Inverno vielleicht?
Oder Kastell Androctus?
Er bleibt auf dem Absatz der langen Wendeltreppe stehen, um ein weiteres Mal aus dem Westfenster zu blicken. Nichts am Fuß der Berge.
Nun gut, denkt Sir Robert di Caela resigniert, das Turnier mag beginnen.
Während der Morgen allmählich wärmer wird und die Ritter zusammenkommen, finden nacheinander die genau festgelegten Vorbereitungen für ein solamnisches Turnier statt: zuerst die Gebete, die Kleriker in weißen Roben sprechen. An den Großen Drachen, an Kiri-Jolit und an Mishakal – um Ehre und guten Kampf und um die Verschonung von tödlichen Wunden.
Dann der Segen der Barden mit Liedern für Huma und Vinas Solamnus und Gerald di Caela, den Ahnherrn der Familie, in deren Namen das Turnier stattfindet.
Zum Zeitpunkt des Segens sind fast alle Ritter eingetroffen – mehr als fünfzig sind versammelt. Vier der berühmtesten kommen zu spät.
Sir Prosper Inverno kommt erst, als die weißgekleideten Kleriker der Mishakal Kiri-Jolit, den Gott des Kampfes, preisen. Der große Mann schreitet zu Fuß durch die Reihen der Ritter, wobei seine geheimnisvolle, durchscheinende Rüstung glitzert. Gemurmel kommt auf, als die Ritter bemerken, wer da gerade eintrifft. Sir Robert lächelt bei dem Auftritt: Er hat gehört, daß Südländer eine Vorliebe für Dramatik haben.
Menschen aus dem Osten hingegen sind weniger einfallsreich. Oder zumindest einer davon, denn Sir Ramiro vom Schlund kommt erst, als die Gebete an Mishakal zu Ende gehen – zu spät, um den heilsamen Segen ihrer Priester zu empfangen. Entschuldigend nickt er Sir Robert zu, der an seinen Augen ablesen kann, daß der Wein am Vorabend in Ramiros Lager großzügig geflossen ist, so daß er heute morgen zerschlagen, müde und spät dran ist. Ohne Zweifel hat seine Genußsucht seine geringen Siegesaussichten vernichtet, wie es Sir Robert auch von anderen, früheren Turnieren bekannt ist.
Noch später kommt Sir Gabriel Androctus, der während der Gebete, der Bardenlieder und dem Bewaffnen der Wettstreiter verdächtig auf sich warten läßt. Er erscheint erst im allerletzten Moment, als die Trompeten erschallen und die Ritter vortreten, während der Herold ihre Namen verliest. In diesem Moment, als das Lesen beginnt, sieht Robert di Caela den schon mit seiner Lanze bewaffneten Sir Gabriel auf seinem Pferd, das er im Schritt durch die aufgeregten Teilnehmer lenkt.
Es ist keine Überraschung, daß seine Rüstung schwarz ist. Wieder spürt Sir Robert das ungute Gefühl von gestern abend auf der Treppe und fragt sich, warum er diesen Mann so freundlich eingetragen hat.
Muß noch halb geschlafen haben, denkt er. Aber bestimmt werden Orban oder Prosper…
Bestimmt werden ihre Lanzen ihr Werk tun, bevor es dazu kommt…
Mit langsam schwindender Geduld und zunehmendem Ärger blickt er nach Westen zu den Ausläufern der Berge.
So viel also zu Blitzklinge und dem Schicksal, denkt er. So viel zu Prophezeiungen.Obwohl Sir Robert niemals die Verlosung beeinflussen würde, damit ein beunruhigender Ritter – wie Gabriel Androctus – einen hervorragenden Gegner bekommt – wie den Blauen Ritter von Balifor –, atmet er doch auf, als die Lose entsprechend gezogen werden. Als ihre Lose aus dem silbernen Zeremonienhelm auftauchen, kommt aus dem goldenen zugleich die Nummer »3«, so daß sie den dritten Zweikampf des Tages bekommen.
Gut. Dann ist es bald vorbei.
Während der ersten beiden Kämpfe ist Sir Robert nachdenklich. Die Kämpfe sind fast so schnell vorbei, wie sie begonnen haben, denn Sir Ledyard und Sir Orban besiegen zwei junge, linkische Ritter aus Lemisch. Ledyards müheloser Sieg gibt Ramiro Anlaß zu einem Spruch: »Ist Sir Ledyard die Blüte von Südlund, ist dann sein Gegner die Blöße von Lemisch?«
Über solche Blödeleien würde Sir Robert normalerweise lange und laut lachen, besonders wenn sie mit Ramiros eigenartigem, östlichen Akzent vorgebracht werden. Und ebenso würde er über den Tanzbären und die Gaukler lachen, die vor den Zuschauertribünen Späße machen, während alles auf den nächsten Kampf wartet. Aber jetzt ist er schweigsam, weil er den nächsten Kampf auf der Liste erwartet, denn die Turniermarschälle haben sich bereits an die langwierige Prozedur gemacht, die nächsten beiden Ritter aufzustellen – den Blauen Ritter aus Balifor und den geheimnisvollen, schwarzgewandeten Gabriel Androctus.
Schließlich erklingt die Trompete des Herolds, und die Vorstellung der Gaukler wird unter vereinzeltem Applaus von seiten der Diener und einiger weniger aufmerksamer Ritter und Damen abgebrochen. Wer sich mit Turnieren auskennt, hat seine Aufmerksamkeit bereits den Kämpfern zugewendet, die jeder an einem Ende des Platzes stehen und vom aufgewirbelten Staub halb verdeckt sind. Die Ritter halten ihre Lanzen in Habachtstellung – aufrecht, so daß sie wie Fahnenstangen oder Obelisken fast zwanzig Fuß in die warme Nachmittagsluft ragen.
Androctus ist Linkshänder, stellt Sir Robert besorgt fest. Das macht es dem Blauen Ritter schwerer. Aber den Geschichten nach hat er schon Schlimmeres bewältigt.
Beim Trompetenstoß des Herolds sollen beide Männer ihre Visiere schließen und die Lanzen anlegen – als Zeichen, daß sie aufeinander vorbereitet sind und daß der Kampf beginnen kann.
Doch hier haben wir ein Problem. Die Visiere beider Ritter sind schon den ganzen Morgen geschlossen, weil beide die Dramatik einer Anonymität vorgezogen haben.
Eine Dramatik, der Sir Robert schnell entgegentritt.
»Edle Herren, öffnet die Visiere!« ruft er mit seiner theatralischsten, befehlendsten Stimme aus. Wie er es erwartet hat (und sich heimlich daran erfreut), zögern beide Seiten.
Dann hebt zu seiner Überraschung der schwarz gerüstete Ritter sein Visier. Er hat ein blasses Gesicht – eines, das Frauen schön nennen würden, das Männer jedoch sicher als gefährlich einstufen würden. Sir Robert wünscht sich, seine Tochter Enid säße neben ihm, die so sicher Gesichter beurteilen kann. Doch sie ist nicht anwesend, weil sie lieber in ihren Zimmern bleiben wollte. Für sie ist das ganze Ereignis bloß ein »Haudegenspektakel in feinen Kleidern«. Also ist er auf sein eigenes Urteil angewiesen.
Das Gesicht im Helm ist so undurchdringlich wie das einer Statue oder eines Toten. Es ist das Gesicht eines Mannes irgendwo zwischen zwanzig und sechzig – genauer kann Sir Robert das nicht bestimmen. Die Augen sind grün, fast gelbgrün, und die Augenlider unnatürlich rot, als wären sie schlecht geschminkt oder nicht ans Licht gewöhnt.
Obwohl es so geisterhaft wirkt, ist es ein beunruhigend vertrautes Gesicht.
Den Blauen Ritter beachtet Sir Robert kaum. Er weiß nicht einmal genau, ob Sir Gabriels Gegner sein Visier öffnet und schließt. Denn der verhüllte Ritter schließt mit einem lauten Schnappen seinen Helm, lehnt sich im Sattel zurück und wechselt die schwere Lanze in die rechte Hand – um keinen unziemlichen Vorteil zu haben.
Pferde dieser Größe – die schweren, braunen Streitrösser aus Abanasinia – brauchen einen Augenblick, um in Gang zu kommen. Die großen Beine und Schenkel und die breite Pferdebrust sind schwere Gewichte, zu denen noch der Ritter in Rüstung auf dem Rücken dazukommt. Um dann annähernd Kampfgeschwindigkeit zu erreichen, brauchen sie Zeit und Kraft. Aber wenn so ein Pferd einmal in Bewegung ist, ist es praktisch nicht mehr aufzuhalten – wie eine Lawine oder ein Sturzbach aus den Bergen.
Genau auf den schwarzen Ritter treibt der Blaue Ritter von Balifor sein Pferd zu, und einen Augenblick scheut und wiehert das Tier unter ihm, weil es vielleicht eine unerwartete Wendung im Kampf wittert. Doch dann rasen beide Männer schwer gerüstet und mit angelegter Lanze aufeinander zu, wo zwei Wimpel – der eine klares Himmelblau, der andere schwarz wie das Auge des Raben – an hohen Fahnenstangen flattern.