Denn der Reiter ist ganz und gar nicht Bayard Blitzklinge, sondern ein einfältiger, rothaariger Junge aus Küstenlund in einer Rüstung, die nur von den Schultern aufwärts glänzt, weil der Brustharnisch und alles darunter mit dunklem, sandigem Schlamm, vertrockneten Algen und Wasserpest und anderen, noch übler riechenden Dingen verkrustet ist.
Ein Pfadwächter ist der Junge. Sir Robert erinnert sich an den Vater und fragt sich, wie ein so feiner, alter Ritter wie Andreas so ein schniefendes Würstchen hervorgebracht haben sollte.
Der Bursche verkündet, daß er vorhat, am Turnier um die Hand der Lady Enid di Caela teilzunehmen. Die Tribüne platzt vor Lachen, und Sir Prosper, dem die verletzte Würde des Jungen bewußt ist, schwenkt wild seine Lanze in der Luft. Aus Respekt vor Prosper erstirbt das Lachen.
Außer bei einem Mann. Von jenseits des Turnierplatzes erhebt sich das Lachen von Gabriel Androctus – melodisch, tief und fast schön. Enid di Caela hört dieses Lachen, fragt sich, von wem es kommt, und geht zum Fenster.
Wo sie zum erstenmal etwas vom Turnier sieht. Sie sieht Sir Prosper von Zeriak, den sie an seiner wolkenartigen, durchs scheinenden Rüstung erkennt und der sich einem Mann entgegenstellt, der lacht – einem schönen Ritter in schwarzer Rüstung, den sie trotz seines angenehmen Äußeren sofort ablehnt.
Sie stellt fest, daß er Linkshänder ist. Da sie selber bei Turnieren zugesehen hat, weiß sie, daß Linkshänder für Verwirrung sorgen können.
Enid di Caela stellt fest, daß sie um Prosper von Zeriak bangt. Auch wenn sie keine Lust hat, Sir Prospers viel jüngere und viel klügere Frau zu werden, weiß sie, daß er ein guter Mann ist.
Wohingegen sie über den Ritter in der schwarzen Rüstung nur weiß, daß er Orban von Kern getötet hat und daß schon sein Anblick – obwohl er schön und gepflegt ist – ihr eine Gänsehaut bereitet.
Unter dem Aussichtspunkt der Lady Enid stampfen unruhig die beiden Streitrösser. Es sind reinblütige Kriegspferde, die darauf versessen sind, sich an Kraft und Geschwindigkeit zu messen.
So also steht es um Sir Prosper von Zeriak. Gemessen und sehr solamnisch nickt er seinem Gegner zu. Er schließt sein Visier und legt die Lanze an.
Der verhüllte Ritter, Gabriel Androctus, steht reglos wie eine riesige Onyxstatue am Ende des Turnierplatzes. Als schließlich der Herold zu Sir Robert blickt und dann die Trompete an die Lippen setzt, macht Sir Gabriel seine Lanze bereit. Die beiden Rösser stieben vor und wirbeln den Boden unter sich auf. Der letzte Kampf um die Hand von Enid di Caela beginnt.
Für zwei so erfahrene und vortreffliche Ritter kommt der erste Stoß zögernd, ja, ungeschickt. Androctus, den zweifellos der Ruf seines Gegners eingeschüchtert hat, macht einen großen Bogen um Sir Prosper und dessen riesigen Falben, und Sir Prosper täuscht linkisch mit der Lanze an, um eindeutig auf den Schild am rechten Arm seines Gegners zu zielen.
Normale Männer hätten sich beim ersten Stoß verausgabt, um ihren Gegner möglichst gleich mit einem glänzenden, auffälligen Treffer niederzuwerfen. Doch Sir Gabriel und Sir Prosper begegnen sich gelassen und geduldig erneut und dann ein drittes Mal. Erst beim vierten Gang trifft die Lanze auf den Schild. Die älteren, erfahreneren Ritter, einschließlich Sir Robert und Sir Ramiro, lehnen sich zurück, weil sie einen langen Nachmittag erwarten.
Selbst der älteste, gewiefteste Ritterveteran ist vom nächsten Gang überrascht. Denn es scheint, als hätte jeder die Schwäche in der Verteidigung des anderen erkannt, um sie sofort zu nutzen. Beim fünften Durchgang splittern die Lanzen, als Sir Prosper Sir Gabriels Schild von vorn erwischt. Dabei stürzt der verhüllte Ritter über die rechte Flanke von seinem Streitroß, bleibt mit dem Fuß im Steigbügel hängen und wird ein paar Schritte mitgeschleift, bis er sich befreien kann und taumelnd aufsteht.
Sir Gabriels Lanze hat ihrerseits Sir Prospers Schild getroffen und ist wie bei dem schicksalhaften Kampf mit Sir Orban hindurchgestoßen, um den Brustharnisch des heranstürmenden Ritters zu treffen. Obwohl Prosper älter ist, reagiert er schneller als sein gefallener Waffenbruder: Er wirft sich nach links, um der Lanze auszuweichen, die wie ein Komet an ihm vorbeischießt. Dennoch verliert Sir Prosper bei diesem Manöver das Gleichgewicht. Er kippt über die mittlere Absperrung und landet auf der Seite, worauf er sich unter Schmerzen erhebt, indem er sich an der Seite der Absperrung hochzieht.
Einen Augenblick lang glauben alle, daß er verloren hat. Dann, als er sieht, daß sein Gegner ebenfalls gestürzt ist, ziehen beide mit neuer Zuversicht ihr Schwert und schreiten aufeinander zu.
Zehn Fuß voreinander bleiben sie stehen. Sir Prosper greift zu seinem Schwert, das für das Turnier sorgfältig abgestumpft worden ist.
»Scharfe Waffen, Sir Gabriel?« fragt er mit angemessener, kalter Höflichkeit.
»Wenn es unser Gastgeber gestattet«, stimmt Sir Gabriel zu. »Schließlich«, verkündet er laut, »hat Sir Robert uns daran erinnert, daß dies sein Turnier ist.«
»Scharfe Waffen«, erklärt Sir Robert ohne Zögern.
»Dann soll es so sein«, spricht Sir Gabriel und streckt die Hand aus, in die der verhüllte Knappe ein mörderisch scharfes Schwert legt. Der Knappe von Sir Prosper folgt seinem Beispiel.
Langsam und wachsam umkreisen die zwei Ritter einander. Dann nähern sie sich schnell wie Schlangen und kreuzen die Klingen.
»Ich kann den Schwertern nicht einmal folgen«, flüstert Sir Ramiro Sir Robert zu und will dann noch etwas sagen.
Aber in diesem Moment trifft Gabriel mit einer kurzen Handbewegung. Sir Prosper erbebt durch einen tiefen, schweren Schnitt an der Rückseite seines rechten Beins. Es ist praktisch vorbei: Die Sehnen hinten im Knie sind durchtrennt.
»A-also, seht nur, Sir Gabriel!« schreit Sir Robert in die plötzliche Stille auf dem Platz. »Findet Ihr nicht, das reicht?«
»Das reicht?« ruft Sir Gabriel ruhig zurück. »Oh, wohl kaum.« Eine weitere kurze Bewegung von der linken Hand, und Sir Prosper sinkt auf die Knie und fällt dann vornüber. Er ist völlig gelähmt.
Doch kein Schrei von Prosper. Bei all dem Schmerz und der Aussicht auf weitere Schmerzen – und Schlimmeres – bleibt er völlig still.
»Ihr habt das Turnier gewonnen, mein Land, Enids Hand«, bittet Sir Robert. »Jetzt haltet Euer Schwert zurück.«
»Wer war mit scharfen Waffen einverstanden?« fragt Sir Gabriel. »Einmal, Sir Robert, einmal in der Geschichte Eurer Familie, haltet Euer Wort.«
Zum letztenmal zuckt das Schwert blitzschnell auf den wehrlosen Kopf von Sir Prosper von Zeriak herunter, der unbewegt nach Süden blickt, bis das Schwert trifft.
Also wird Sir Robert di Caela am nächsten Sonntag, vier Tage später, seine Tochter Enid mit ihrem Verlobten, Sir Gabriel Androctus, vermählen. Mit der Hand seiner Tochter übereignet er dann irgendwann das Land und allen Besitz der Familie di Caela. Er übergibt Kastell di Caela selbst.
11
Während all dies geschah, waren wir immer noch im Vingaard-Gebirge.
In den steilen Vorbergen wurden wir erheblich aufgehalten, weil ein starker Regen die Wege zerstörte. Agion und Bayard mußten zweimal anhalten und Bäume fällen, die sie über den beschädigten Weg legen konnten. Denn ob beschädigt oder nicht, abseits der Straße war es so steil, daß Pferde nie durchkommen würden, und die Straße war unsere einzige Möglichkeit, die Berge zu durchqueren, ohne umzukehren und das Turnier gänzlich zu versäumen. Nach zwei Tagen Holperstrecke und Trübsinnblasen kamen wir in noch höheres, felsiges Gelände. Der Morgen war grau, aber überraschend freundlich, die Sonne erhob sich verschleiert hinter den Wolken, und die Aussicht auf weniger Regen verbesserte unsere Laune. Bayard ritt unserer kleinen Gruppe pompös auf Valorus voran.