Ich folgte seinem Blick. Tatsächlich. Der schmale Pfad war jetzt frei von Ungetümen.
»Kannst du ihn tragen, Agion? Vielleicht können wir durchschlüpfen, solange Sir Riese weg ist. Oder wir könnten zurück nach Westen, nach Küstenlund, gehen.« Der Zentaur schüttelte den Kopf.
»Vorerst bleiben wir hier, mein kleiner Freund. Der Ritter ist verletzt. Er kann nicht transportiert werden. Bis er also aufwacht… zünden wir ein Feuer an und halten Wache und halten Ausschau nach Ogern.«
Ich blickte mich um. Es war nicht gerade eine vielversprechende Landschaft. Bayard hatte uns immer höher ins Vingaard Gebirge geführt, über die Baumgrenze hinaus in ein lebensfeindliches, felsiges Land aus Stein und Eis und hartem Fels. Die Welt um uns herum war in eine unbehagliche, nachdenkliche Stille verfallen.
Der folgende Tag war wahrscheinlich der bisher schlimmste. Bayard reagierte weder auf Goldwurz, noch auf Mimseng oder Schaltkraut. Das weiß ich, weil Agion mich zwischen den Felsen nach diesen und anderen Kräutern suchen ließ. Nachdem ich das Gebiet um die Lichtung und den Pfad noch einmal so weit abgesucht hatte, wie mein Mut es zuließ, kehrte ich zu unserem Lager zurück, wo Agion über einem immer noch bewußtlosen Bayard kniete.
»Hab ich Ihm je erzählt, was Megära über Schaltkraut zu sagen hatte?« fragte Agion.
»Schau mal, Agion, ich finde nicht, daß wir jetzt – «
»›Gut für alles, was Ihn plagt, Agion‹, sagte sie immer, solange Er ein Jahr auf die Wirkung warten will.‹« Er warf das Schaltkraut gleichgültig beiseite.
»Agion – «
»Er paßt auf, ob der geheimnisvolle Oger zurückkommt. Mit den plötzlichen Wetterumschwüngen und den geheimen Eigenschaften dieser stinkenden Pflanzen habe ich genug Probleme. Was mich betrifft, so werde ich es uns für die Nacht bequem machen, denn heute sieht es nicht so aus, als würde Bayard erwachen. Also können wir nicht weiter.«Bei Anbruch der Nacht sah es noch übler aus. Die Luft wurde dünner, und die Temperatur fiel noch weiter ab. Es war, als wäre plötzlich der Winter hereingebrochen. Die Landschaft um uns herum war in das blutrote Licht der untergehenden Sonne getaucht, und unsere Schatten wurden immer länger, während die Dunkelheit aus dem Osten vor uns hochkroch. Bald kam unser einziges Licht und die einzige Wärme von der armseligen Flamme, die Agion geschickt mit den spärlichen trockenen Zweigen und Blättern entzündet hatte.
Ich zog meine verzierten Lederhandschuhe aus der Tasche – die teuren, die ich mit dem Geld der Diener gekauft und während unserer ganzen Sumpfreise versteckt gehalten hatte, um keinen Verdacht zu erregen. Es war zu kalt, als daß ich mich darum geschert hätte, was jemand von meinen Sachen dachte.
»Findest du nicht, daß Sir Bayard diese Spielchen unten in Solamnia zu ernst nimmt?« flüsterte ich Agion zu. »Schließlich setzt er nicht nur sein eigenes Leben bei dieser hirnverbrannten Reise durch die Berge aufs Spiel, auch wenn er sich schon selbst ganz gut vordrängelt.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Agion. »Steht nicht irgendwo im Kodex: ›Im Turnier heißt es Leben oder Tod‹?«
»Ich bin unter Solamniern aufgewachsen, Agion, und ich denke, ich hätte solche Dummheiten schon mitbekommen, wenn es solche Dummheiten gäbe. Leben oder Tod ist jetzt der tiefe Winter, der über uns hereinbricht. Schau ihn dir doch an.«
Bayard lag neben uns auf einer Decke und war gegen den kalten Fallwind abgeschirmt. Er zeigte keine Anzeichen, daß er erwachen wollte, obwohl es schon zwölf Stunden her war, daß er sich zum letztenmal geregt hatte.
»Was soll ich denn machen?« fauchte Agion. »Es ist nicht der beginnende Kältetod, noch nicht einmal eine beginnende Frostbeule. Was Ihn plagt, Meister Galen, ist reine Unbequemlichkeit – die Schmerzen eines Edelknaben, der sich an den Kamin hockt, wenn der erste Frost den Boden berührt. Er ist zu weich, Meister Galen, und obwohl es nicht meine Aufgabe ist, Ihm solche Dinge zu sagen, muß das mal jemand aussprechen.«
Er sah mich mit solcher Verachtung an, daß er zweifellos glaubte, ich würde auf der Stelle zerknirscht zusammenbrechen.
»Zuallererst ist Feigheit absolut unziemlich und unrühmlich für einen, der einem Ritter wie Sir Bayard dient. Aber es sind auch die kleineren Dinge – das Gejammer und Genörgel und die Sorge vor großen Strapazen und stürmischem Wetter. Er ist oft wirklich überflüssiger Ballast, denn wenn eine Kante in Seinem Sattel ist, dann findet Er sie und dazu noch das Steinchen in seinem Lager. Ich frage mich die ganze Zeit, was Er mal sagt, wenn wirklich Gefahr und echte Unannehmlichkeiten drohen. Aber ich habe schon zuviel gesagt.«
»Wenigstens darin hast du recht, Zentaur. Du redest zuviel. Vielleicht jammere und nörgele ich über das Wetter, aber guck dich doch um, Agion. Je höher wir kommen, desto kälter wird es, und ein großer, dämlicher Zentaur wird der letzte sein, der eine wirklich gefährliche Temperatur spürt.
Aber es gibt Gefahren. Uns könnten im höchsten Bereich des Passes die Vorräte ausgehen. Du kennst doch solche Geschichten – wie die Reisenden ihre Rationen verzehren, dann die Pferde und schließlich einander? Tja, wenn der Proviant verbraucht ist, kommt als erstes das Packpferd dran, dann Valorus – ich bin sicher, wir gehen nach Vertrautheit. Rate mal, wer der dritte ist, Agion. Man wartet immer bis zuletzt, ehe man jemanden der eigenen Art ißt – das ist die menschliche Natur, die Natur von allen, außer vielleicht Goblins. Überleg mal, wer hier der Außenseiter ist«, flüsterte ich, um mein Argument so bedrohlich wie möglich zu beenden. »Die Treue zur eigenen Art ist mächtig.«
So schmollten wir vor uns hin und weigerten uns, miteinander zu reden. Wir verteilten die Wachen für die Nacht, und der, der gerade nicht dran war, schlief unruhig.
Agion schnarchte dabei so laut, daß ich von Zeit zu Zeit auf meinem Wachtposten aus dem Schlaf schreckte und von Panik erfüllt war, daß ich gleich von einer Lawine oder einem Bergrutsch verschüttet werden würde, die von irgendeinem unbeachteten Gipfel auf uns hernieder brachen.
Das war alles Einbildung und Traum. Aber der Schlaf war wegen der Träume unruhig, denn alte Ängste stiegen aus dem Gedächtnis und aus der Phantasie hoch, um meinen Platz am Feuer und meine Decke zu teilen. Ich träumte, daß der Skorpion mich fand, daß Bayard alles über den Skorpion erfuhr, daß Alfrik mit dem Messer in der Hand aus dem Sumpf stieg, und daß Vater uns auf der Straße erwartete und mein Todesurteil in der Hand hielt.
Irgendwann sehr früh am Morgen – die Nacht war noch pechschwarz – schreckte ich während meiner Wache wieder aus dem Schlaf auf.
Das Glück hatte mich nicht verlassen. Ich war eingenickt, und dennoch war nichts Schlimmes geschehen. Seufzend blickte ich nach oben, wo das Buch von Gilean sich über mir kaum sichtbar am Himmel drehte und dabei immer wieder von den Wolken verdeckt wurde, die rasch von Osten nach Westen zogen. Man konnte kaum über den Bereich des Feuers hinaus sehen, kaum etwas anderes hören als sein Prasseln, das Atmen der Pferde, Agions Schnarchen und das schwache Heulen des Windes.
Aber von irgendwo da draußen im Süden – in Richtung Paß – trug mir der Wind ein Geräusch zu, das mich kerzengerade dasitzen und lauschen ließ. Doch dann hörte ich nur noch Schweigen in der Ferne; das Geräusch wiederholte sich nicht.
Eine Stunde oder so saß ich hellwach und still da und lauschte. Aber ich hörte nur das Knacken der Kiefernzweige im Feuer und das Grollen des Zentauren, den im Schlaf bestimmt keine Gedanken störten, weil sie das auch im Wachen nicht taten.
Was ich gehört hatte, waren vorüberziehende Stimmen. Und ich hätte schwören können, daß es sich so anhörte, als wenn meine Brüder einander beim Namen riefen.
Als Agion mich mit der Wache ablöste, dachte ich kurz daran, den Stimmen zu folgen.
Aber wo waren sie hin?
Wer konnte sicher sein, daß ich meine Brüder gehört hatte und nicht irgendwelche Monster?