Er unterrichtete uns in Dichtkunst und Geschichte (und bis zu dem Tag, wo Alfrik vor Erschöpfung im Unterricht ohnmächtig wurde, sogar in Mathematik). Er gab auch Wappenkunde und Rhetorik und solamnische Sagenkunde – ein Hansdampf in allen Gassen mit Halbwissen auf allen Gebieten, der vor allen Licht- und Wärmequellen voller Panik flüchtete.
Weshalb ich seiner Erklärung wie gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit schenkte, weil er so mit Mutmaßungen, Gerüchten und Aberglauben beschäftigt war. Statt dessen warf ich die Calantina, die roten Würfel aus Estwilde, und erhielt viermal nacheinander die Fünf und die Zehn, Dampf auf Erde, das Zeichen der Viper. Ich schlug in den Büchern aus Gileandos’ Bibliothek nach, las alle Kommentare zu dieser Weissagung, wußte jedoch hinterher nicht mehr über das Geheimnis als zuvor.
Inzwischen war alles mit den Ereignissen in der Nacht des Banketts beschäftigt. Bayard hatte sich ein Lederwams geliehen und wollte dem Dieb mit Schild und Schwert nachsetzen, sobald er seinen Aufenthaltsort herausfinden würde. Er war wütend, daß er auf seinem Weg zum Turnier aufgehalten wurde. Da er jedoch von Natur aus nachsichtig war, beabsichtigte er immer noch, seinen Knappen mitzunehmen, obwohl Alfrik das Verschwinden der Rüstung nicht verhindert hatte. Vater hingegen machte sich Gedanken über Alfriks Beteiligung an dem Diebstahl.
Und Vater war nicht sehr nachsichtig.
»Bayard, ist die Strafe für Nachlässigkeit in Sachen Rüstung immer noch der Tod durch den Strang, oder ist der Orden mit den Jahren laxer geworden, seit ich mich zur Ruhe gesetzt habe?«
Ich erinnere mich an jedes einzelne Wort, das sich in mein Gedächtnis einbrannte, während ich ein Husten wegen der Asche und dem alten Rauch unterdrückte. In der Wasserburg gab es nämlich Geheimgänge, die Vater entweder vergessen oder nie kennengelernt hatte und zu deren Entdeckung Brithelm zu heilig und Alfrik zu dumm war. Dennoch gab es sie, und einem Jungen, der es gewöhnt war, lästigen Pflichten und Strafen zu entfliehen, kamen sie sehr gelegen. Besonders der Zugang zum großen Saal, der sehr praktisch an der Rückwand des Kamins lag, sagte mir zu. Von dort aus belauschte ich Vater und Bayard.
»Nicht lax, Sir Andreas, sondern vielmehr verständnisvoll, daß Knappen oder zukünftige Knappen Fehler machen können.« Ich konnte sehen, wie er sich nach vorne beugte, und hörte das Lederwams knirschen und knacken, als er eine Kunstpause machte. Das Wams war ihm zu kurz und hätte ihn lächerlich aussehen lassen, wären da nicht diese grauen Augen und das ernste Gesicht gewesen. »Nein«, fuhr er fort, »heutzutage neigt der Orden zur Nachsicht, und ich bin mir gar nicht sicher, ob das so falsch ist.«
Also kein Hängen. Auch gut. Es gab dauernd Zwischenfälle auf den Straßen – Räuber, feindselige Zentauren, sogar die Bauern selbst, die dem Orden schon seit Generationen nicht sehr wohlgesonnen waren –, was Gileandos zufolge etwas mit der Umwälzung zu tun hatte, obwohl die doch schon fast zweihundert Jahre her war.
Die Bauern hatten offensichtlich ein langes Gedächtnis.
Jedenfalls würden unsere eigenen Bauernlümmel jede Entschuldigung begrüßen, einem Ritter von Solamnia aufzulauern, der durch ihr Land zog. So wenigstens hatte man es uns im Schloß erzählt.
»Ich sehe es als Jugendsünde an«, fuhr Bayard fort, während er einem unserer unzähligen Hunde das Ohr kraulte, der zu seinem Stuhl gekrochen war. Bayard hob die Hand, um seine Aussage zu bekräftigen, woraufhin der Hund, den seine Jahre in der Burg geprägt hatten, zusammenzuckte und aufjaulte.
»Aber vergeßt nicht, Bayard, daß der ›Junge‹, von dem Ihr sprecht, einundzwanzig Jahre alt ist«, brummte Vater, wobei sich seine Riesenpranken fester um den Stock schlossen, den er benutzte, wenn ihn der Schmerz in seinem Bein an den Jagdunfall vom letzten Winter erinnerte. »Und wie Ihr inzwischen wißt, ist Alfrik nicht der Hellste meiner Söhne.«
Bayard unterdrückte höflich ein Lächeln und nickte. Vater bemerkte das gar nicht, weil seine Augen vor ihm auf den Boden gerichtet waren.
»Um deutlich zu sein: Im Grunde ist er ein rechthaberischer, ziemlich ungehobelter Flegel. Er ist einundzwanzig, Sir Bayard, kein Junge mehr, also ist es unwahrscheinlich, daß er aus solchen Sachen noch herauswächst. Wenn er als Kind irgendwie anziehend oder auch nur anständig gewesen wäre, wäre er inzwischen Ritter. Als Bauer würde er inzwischen wahrscheinlich Verantwortung für Frau und Kinder tragen.«
Und als Hund oder Pferd wäre er vermutlich längst tot und könnte keinen Ärger mehr machen.
Mein Versteck war zu eng. Ich setzte mich anders hin, wobei mein Gürtel an den Steinen entlang ratschte, was ein Geräusch verursachte, das man ganz sicher bis nach Palanthas und Pax Tarkas und an allen Enden der Welt hörte. Ich hielt die Luft an und wartete.
Bayard lehnte sich wieder zurück und warf einen raschen, unauffälligen Blick in meine Richtung. Ich war mir sicher, daß er mich bemerkt hatte.
Doch er drehte sich sofort wieder zu Vater um, der fortfuhr, als wäre nichts geschehen.
»Was ich sagen will, Bayard«, erklärte der alte Mann, »ist, daß Alfrik mit einundzwanzig jenseits von ›Jugendsünden‹ stehen sollte. In seinem Alter war ich ein Ritter des Schwertes, hielt mit einer kleinen Truppe den Chaktamir-Paß, watete bis zu den Knien im Blut der Männer von Neraka…«
»Aber, Sir Andreas, das waren besondere Zeiten, in denen es besondere Männer gab«, entgegnete Bayard sanft und voller Respekt. »Ich habe von Euren Taten bei Chaktamir gehört. Darum glaube ich, daß dennoch etwas in einem Eurer Söhne schlummert, unabhängig davon, wie wenig vielversprechend sie Euch bisher erscheinen mögen. Schließlich zählt bei solchen Sachen das Blut.«
Hinter dem ergrauten Rot seines Bartes errötete Vater, der noch nie ein Kompliment leicht hingenommen hatte.
»Verdammt, Sir Bayard, ich wollte diese Jungs aus dem nördlichen Küstenlund rausschaffen, weg von diesem sumpfigen Ende der Welt. Sie nach Solamnia bringen, zu Abenteuern und Schwertkämpfen und edlen Taten und so. Mein mittlerer Sohn ist so eine Art… Mönch, und der Jüngste hat alles Zeug zum Gauner…«
Bayard warf einen raschen Blick in meine Richtung.
»Ihr beurteilt sie streng, weil Ihr hohe Maßstäbe anlegt«, versuchte er ihn zu besänftigen, doch Vater sprang nicht darauf an.
»Und der älteste… ein mürrischer Fettkloß in meiner Speisekammer. Das reicht doch, um einen alten Mann zur Weißglut zu treiben!«
»Mein Angebot steht weiterhin, Sir Andreas«, erwiderte Bayard etwas ungeduldig. »Einer Eurer Söhne – ich meine jetzt irgendeinen – als meinen Knappen. Er wird einen fähigen Lehrer bekommen.« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Finger und drehte sich ganz langsam zum Kamin hin.
Ich drückte mich an die Mauer des Kamins, in die sichere, aschgraue Dämmerung zurück. Da sah ich mich plötzlich neuen Problemen gegenüber. Eine Ratte, die aufgewacht oder durch mein Abenteuer im Tunnel aus ihrem Versteck aufgestört war, huschte über meinen Fuß und duckte sich erschrocken in die dunkle Ecke des Kamins. Ich fuhr entsetzt hoch und stieß mit dem Kopf gegen die geschwärzten Ziegelsteine, worauf ein Ascheregen auf mich niederging.
Jetzt kam natürlich auch noch der Hund kläffend auf mein Versteck zugerannt, weil er sicher war, daß er etwas Wildes und vielleicht Freßbares bemerkt hatte. Ich holte mit dem Fuß aus, trat die Ratte dem Hund in den Weg und kroch den Geheimgang hoch, während hinter mir Knurren, Geschrei und schließlich verzweifeltes Quieken verebbte. Durch den Wandschrank schlüpfte ich in mein Zimmer, vertauschte meine verdächtig rußigen Kleider mit einem unschuldigen Nachthemd und sprang ins Bett, um den späten Vormittag und den leeren Flügel der Burg mit dem Geräusch von vorgetäuschtem Schnarchen zu füllen.