Warum hatte ich Sir Bayard Blitzklinge verlassen, der sich vor knapp vierzehn Tagen so großzügig dazu herabgelassen hatte, mich als Knappen mitzunehmen, obwohl mein Vater erhebliche Einwände gehabt hatte?
Warum war Sir Bayard eigentlich zu spät zum Turnier gekommen, und was hatte ich mit diesen Verzögerungen zu tun?
Je mehr ich über meine Lage nachdachte, desto mehr schien eine Rückzahlung an Sir Bayard angebracht. Ich zog die Würfel heraus und warf die Calantina.
Zeichen des Hirsches. Was völlig aus der Luft gegriffen war, wie ich fand.
Nun, ich glaubte sowieso nicht mehr so recht an die Calantina. Ich versuchte es noch einmal, weil ich auf ein Zeichen hoffte, das ich besser verstehen und lieber mögen würde.
Zeichen der Ratte. Mal wieder. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, wo ich das geworfen hatte. Das war in der Wasserburg gewesen.
Also schön. Ich würde wieder gehen. Wieder einmal war das Wiesel eine Ratte.
Ich stand auf, nahm meinen Mantel vom Bett und ging zur Tür. Dort legte ich mein Ohr an die Tür und lauschte. Draußen im Gang war es ziemlich still. Anscheinend waren die Kuckucke in diesem Gang abgelaufen oder kaputt oder fürs erste fertig, bis ihre Rädchen irgendwann in zehn Minuten bis drei Tagen an den Punkt kamen, wo sie wie ein völlig durchgedrehtes Uhrwerk wieder loslegen würden.
Ich öffnete langsam die Tür und trat auf den Gang. Auf Zehenspitzen schlich ich an den metallenen Wächtervögeln vorbei und strebte den Gang entlang auf die Treppe zu. Dabei umklammerte ich immer noch meinen Mantel.
Der von Vögeln beherrschte Gang endete mit einem Bogen, der auf einen Treppenabsatz oberhalb des großen Raumes führte, wo Sir Robert zum erstenmal von der bevorstehenden Hochzeit seiner Tochter gesprochen hatte. Ich stand bei dem Bogen und sah die Treppe hinunter.
Auf diesem Absatz hatte Lady Enid gestanden und die Vögel nachgestellt. Ich sagte der Lady schweigend Ade in der Hoffnung, daß die di Caelas – sowohl die liebliche Enid als auch ihr eleganter Vater – eines Tages im großen Saal der Wasserburg ein paar Tränen vergießen würden, wenn Alfrik die Nachricht erhielt, daß sein kleiner Bruder in einem fernen Land einen vorzeitigen Tod gefunden hatte. Vielleicht würden sie sich dann wünschen, sie hätten diesen jüngsten Pfadwächter gekannt: den unbeugsamen Galen, das durchtriebene, aber gutherzige Wiesel.
Ich schniefte, weil ich durch diese traurige Szene in meiner Vorstellung selbst zu Tränen gerührt war. Dann wollte ich die Treppe hinuntergehen.
In diesem Moment begann der Vogel rechts von mir zu kreischen – laut und schmerzerfüllt, als wenn ihn jemand entzweireißen würde. Überrascht warf ich mich herum und schmiß meinen Mantel über das quäkende, mechanische Ding, das unter den grauen Falten weitertanzte. Sein Schreien kam erstickt, er war aber immer noch nicht still. Ich sah hinter mich zu meinem Zimmer, dann wieder vor mir die Treppe hinunter.
An deren Fuß Enid stand, die ihre kleine Hand auf das Geländer gelegt hatte und mich aus braunen Augen neugierig und amüsiert ansah.
»Spiel nicht an den Apparaten rum, Junge«, sagte sie ruhig. »Sonst klingen sie noch schlimmer. – Obwohl man sich bei dem, den du gerade zugedeckt hast«, fuhr sie fort, während sie die Treppe hochkam, »kaum noch vorstellen kann, daß etwas den Klang noch mehr beschädigen könnte.«
Sie duftete nach Flieder und nach verlorener Zeit.
Ich fand meine Stimme wieder, die zweifellos schon den halben Gang zurückgeflohen war. »Der da kommt einem etwas… heiser vor, Lady Enid. Aber die anderen, wenn ich so kühn sein darf…«
»Sind scheußlich«, lachte sie. Ihr Lachen klang so musikalisch, wie das Geräusch des abgedeckten Kuckucks disharmonisch. »Ich glaube wirklich, wenn Mutter noch lebte, wären wir diese kleinen, blechernen Quälgeister längst los, egal wie lange sie schon zur Familientradition der di Caelas gehören. Was Klang und Farben angeht, kann man dem Geschmack der Männer nicht trauen – denn sie lieben bei beidem zu sehr das Grelle.«
Sie ging an mir vorbei und hob meinen Mantel von dem armen Kuckuck, der mit seinem nervtötenden, hysterischen Gekreische weitermachte. Mit einem Griff unter seine Stange löste sie etwas, bewegte einen Bolzen oder einen Schalter, und der Vogel wurde endlich still.
»Du weißt natürlich alles über Familientradition, da du ja auch so ein Solamnier bist«, sagte Lady Enid, während sie sich bei mir einhakte und mich in einer Woge von Licht und Flieder die Treppe hinunter führte. »Findest du diese Besessenheit mit Blutlinien und Zeremonien nicht auch mitunter etwas… öde?«
Ich war sprachlos über die Schlauheit da an meinem Arm.
»Ich meine, jede kleine Geste ist Teil irgendeiner solamnischen Tradition, und wenn man die bricht, ist die Strafe nichts weiter als Gesichtsverlust. Das kann natürlich unangenehm sein, aber es ist bestimmt nicht so tödlich, wie die Ritter immer tun.«
Sie lachte wieder ihr musikalisches Lachen, und ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde.
»Verzeiht mir, Sir. Da vergesse ich doch einfach, daß Ihr Euch auf die Ritterschaft vorbereitet und Euch bestimmt die ganze Zeit mit so ernsthaften Dingen befaßt.«
»Ritterschaft?« Ich blieb auf der Treppe stehen.
»Bist du nicht Sir Bayard Blitzklinges Knappe?«
»D-doch, natürlich. Verzeiht mir, Lady Enid. Ich habe mich von der Schönheit des Schlosses ablenken lassen.«
Und von der Herrin des Schlosses. Ich vergaß mich so sehr, daß ich unter anderem vergaß zu fragen, wo es überhaupt hinging. Wohin führte sie mich?
»Attraktiver Mann, dieser Blitzklinge. Ich sah ihn von meinen Fenstern aus bei der Ankunft. Ich wette, er ist ein guter Schwertkämpfer.«
»Einer der besten«, stimmte ich zu. »Wenn Ihr bei Männern so etwas schätzt.«
»Da wünschte ich mir doch, ich könnte noch eine freie Entscheidung treffen«, sagte Enid trübsinnig. Dann heiterte sich ihr Gesicht plötzlich auf, und sie nickte zu einem der Porträts an der Wand hin.
»Muriel di Caela. Meine Urgroßtante.«
»Hübsch«, antwortete ich automatisch.
»Es ist goldig, daß der Orden den Jungen Höflichkeit eintrichtert, Galen, aber in diesen Räumen gibt es dazu keinen Anlaß. Sieh dir das Gesicht an: eine Eule. Ein Antlitz, das höchstens ein Troll lieben könnte.«
»Habt Ihr sie gekannt?«
»Sie starb, als ich klein war. Sechs Monate vor meiner Geburt hat sie sich oben im Südwestturm eingeschlossen – der höchste, ganz ohne Fenster bis auf die Räume, die zur Zwischenmauer hinausgehen. Da hat sie sich mit ihren Lieblingen eingeschlossen – einem Dutzend Katzen. Kannst du dir vorstellen, wieviel Haare in der Luft waren? Damals war Großvater der di Caela – der Herr des Schlosses. Er ließ ihr ihren Willen. Es ist Tradition, daß bei den di Caelas die Männer alle Entscheidungen für ihre Frauen treffen – bis sie alt sind…«
Das sagte sie mit einer gewissen Bitterkeit. Ich wurde aufmerksamer.
»Dann jedoch lassen die Männer sie machen, was sie wollen. Was um die Zeit gewöhnlich heißt, daß sie den Männern das Leben zur Hölle machen, die sie jahrelang gegängelt haben.
Jedenfalls fing Tante Muriel etwa zum Zeitpunkt meiner Geburt an, alle Nahrung zu verweigern. Da sie von der herrschsüchtigen Sorte war – bedenke, daß sie ein halbes Jahrhundert aufzuholen hatte, in dem sie keine Entscheidung treffen durfte, ein halbes Jahrhundert, wo sie fraglos der Familientradition der di Caelas folgte –, verweigerte sie auch die Nahrung für ihre Tiere. Natürlich haben ihre Katzen sie aufgefressen.
Nach einer Woche Fasten berichteten die Wachen besorgt, daß Tante Muriel schwieg. Daß sie keine Befehle und Anweisungen mehr durch den Türschlitz des Turmzimmers brüllte.
Unter Vaters Führung versuchten sich die Wachen an der Tür. Unter Onkel Roderichs Führung – der nicht lange darauf starb, aber das ist eine ganz andere Geschichte –, versuchten sie, das Schloß zu knacken. Schließlich mußten sie die Tür natürlich einschlagen. Den Rest…«, sie lächelte düster, »kannst du dir denken.«