»Lag das auch an dem Fluch?«
Natürlich bereute ich meine Worte sofort. Aber Enid zeigte sich nicht überrascht.
»Vielleicht indirekt. Ich habe nie daran gedacht. Natürlich wird fast alles auf den Fluch geschoben, was hier passiert, Galen.«
Sie legte den Kopf schief und lächelte mich neugierig an.
»Du scheinst eine ganze Menge über den Fluch der di Caelas zu wissen. Besonders wenn man bedenkt, daß du kein di Caela bist.«
Ich war von ihrem Lächeln so überwältigt, daß ich nicht antworten konnte.
»Ach, was soll’s«, sagte sie wegwerfend. »Wahrscheinlich bekommen es alle Solamnier mit, wenn der alte Benedikt zurückkommt.«
»Es ist also in jeder Generation derselbe?«
»Keiner von uns hat die geringste Ahnung. Der Fluch klingt etwas besser, wenn es so wäre. Aber ob es nun jedesmal der alte Benedikt ist oder einer seiner Nachkommen oder jemand ganz anderes, jedenfalls soll diese Generation wichtig sein. Darum hat Vater das Turnier einberufen. Er wollte mich an einen namhaften Ritter verheiraten, bevor der Fluch wiederkehrt.«
Ich nickte wissend, da ich absolut keine Ahnung hatte, wie der Fluch denn nun wirklich funktionierte. Oder wie Sir Robert ihn sich vorstellte.
Wir bogen links in einen Gang ab, der von dem Treppenabsatz wegführte. Je länger wir liefen, desto größer kam mir das Schloß vor. Fast eine eigene kleine Welt.
Beim Gehen überschlugen sich meine Gedanken.
»Es war also dieser Gabriel Androctus, der gesiegt hat. Sir Gabriel Androctus, Ritter des Schwertes. Ein hochtrabender Titel, aber wenn du mich fragst, ein Ritter, dem es doch noch an einigem mangelt«, erzählte Enid weiter. Sie zeigte einen weiteren Gang nach rechts hinunter. Auf der einen Seite waren Fenster, auf der anderen lebensgroße Marmorstatuen.
»Die ersten sechs Oberhäupter der Familie di Caela«, erklärte sie.
»Welcher ist Benedikt?«
»Benedikt di Caela hat versucht, diese Familien zu zerstören. Er versucht es vielleicht immer noch. Warum sollten wir eine Statue für ihn aufstellen, du Dummerjan?«
Am Ende des Gangs ging eine Tür auf, und ein weiteres Mädchen – das ich ungefähr auf Enids Alter schätzte – trat aus dem Zimmer und kam auf uns zu.
»Base Danielle«, rief Enid. »Komm her und lern Galen Pfadwächter kennen, den berühmten Knappen.« Das Mädchen wurde etwas langsamer und warf einen Blick auf mich.
»Für einen berühmten Knappen ist er furchtbar klein«, rief Danielle.
»Aber trotzdem charmant«, antwortete Enid. »Komm schon.«
Ich muß zugeben, daß ich mich innerlich etwas wand. Ich hasse jedes Aufsehen meinetwegen, und ich konnte sehen, daß es Aufsehen geben würde. Danielle glitt den Gang herunter – sie hatte die Anmut der di Caelas.
Aber nicht ihr Äußeres.
Was nicht heißen sollte, daß sie nicht ebenfalls schön war. Doch statt blondem Haar, braunen Augen und hohen Wangenknochen, war ihr Haar rot, die Augen grün und die Gestalt klein und vogelartig. Sie starrte mich an, und es kam mir so vor, als würde ich in einen Spiegel schauen, wo ich als hübsches Mädchen gespiegelt wurde.
Es war also wirklich unangenehm.
»Im Sockel des alten Gerald ist ein Sprung, Enid«, stellte Danielle gelassen fest, wobei sie mich musterte. »Der Junge hier sieht eher einem Pfadwächter ähnlich als einem Menschen.«
»Oh, hör auf, Danielle!« schimpfte Enid. »Er ist nicht verantwortlich für…«
Da lachten beide Mädchen los, und Enid legte mir eine Hand auf die Schulter, und mir stieg wieder die Röte ins Gesicht.
»Danielle hält nicht besonders viel von deinem ältesten Bruder, obwohl ich partout nicht begreifen kann, weshalb. Wo er doch ihre Farben und das alles hat«, erläuterte Enid. Danielle heulte in gespielter Wut auf und tat so, als wollte sie uns verlassen und wieder verschwinden.
Enid rief sie zurück. Dann starrten sich die beiden einen Augenblick lang grimmig an, bis sie in schallendes Gelächter ausbrachen.
Da bemerkte ich die stärkste Familienähnlichkeit. Das Lachen der beiden erfüllte die langen Gänge des Schlosses mit warmer, schmeichelnder Musik.
Wir liefen zu dritt zum Ende des Gangs mit den Statuen, den das Licht der Nachmittagssonne erhellte. Bei Danielles Tür bogen wir nach rechts ab, wie ich glaubte, zurück zur Treppe. Unterwegs zeigten mir die Mädchen zahlreiche Gegenstände aus der Geschichte der di Caelas.
Ich hörte von Denis di Caela, der den Ratten im Schloßkeller den Krieg erklärt hatte – in jedem Schloß eine schier unmögliche Aufgabe, doch in einem dieser Größe (und zur Zeit des Fluches) absolut unmöglich. Ich hörte, wie er nach zehn Jahren verlorener Schlachten eine riesige Ratte gefangen hatte, und das Tier dann ein Jahr lang als Geisel hielt, weil er glaubte, daß die Ratten aufgeben würden, um »ihren Anführer zu befreien«.
Dann war da Simon di Caela, der sich für eine Eidechse hielt und seine Zeit damit verbrachte, auf dem Dach des niedrigen Nordostturms in der Sonne zu liegen und auf Fliegen zu warten. Es sei ein plötzlicher Frosteinbruch gewesen, behaupteten die Mädchen fröhlich, der ihn umbrachte. Aber irgendwie hatten solche Männer seit über vierhundert Jahren die Attacken von Benedikt di Caela abgewehrt.
Das sollte doch reichen, um einem Mut und Zuversicht zu geben.
»Was dämpft denn Eure… Begeisterung für den fraglichen Bräutigam, wenn ich fragen darf, Lady Enid?«
»Die Prophezeiung, du Dummerjan. Die Randnotiz im Buch von Vinas Solamnus«, erklärte Enid schlicht.
»Also kennt Ihr die Prophezeiung?«
»Natürlich«, erwiderte sie. »Onkel Roderich ist extra nach Palanthas gereist, als ein Bibliothekar sie bei dem Text fand. Natürlich ist es dämlich, aber da in jeder Generation ein Unglück geschieht, geht die Familie allen Hinweisen nach.
Da steht etwas über eine ›Blitzklinge‹, weißt du«, fuhr sie fort, während sie uns nach links in einen anderen Gang und dann rechts entlang führte. Eine Wand von diesem Gang war mit einem Gemälde über den Fall von Ergod bemalt. Die andere war völlig nackt bis auf eine Tür, die nach Angaben der Mädchen zu einem Balkon über dem Speisesaal führte. »Und Vater hat sich an diese Prophezeiung geklammert und sie als Omen genommen, daß wir uns durch Heirat mit den Blitzklinges verbinden müßten.«
»Das sagt der Wortlaut der Prophezeiung natürlich nicht so klar«, fügte Danielle hinzu. »Man kann sie auf verschiedene Arten lesen – daß irgendwie ›die blitzende Klinge den Fluch aufhebt‹ oder so was, woraus Onkel Robert geschlossen hat, daß Enid einen von ihnen heiraten muß.
Das war auch der Grund für das Turnier. Onkel Robert glaubte, wenn es ein Turnier geben würde, würde Bayard Blitzklinge dabei auftauchen. Es war unter anderem auch ein Vorwand, um ihn herzulocken.«
»Was natürlich nicht funktioniert hat«, seufzte Enid und nahm so den Faden wieder auf. »Wo hat Sir Bayard gesteckt – hat er sich im Wald verlaufen?«
Ich errötete noch heftiger, falls das möglich war. Enid überging das einfach.
»Ich habe ihn zwar erst einmal gesehen, aber im Vergleich zu diesem… Androctus schneidet er nicht schlecht ab.
Aber den muß ich leider heiraten.«
»Aber – «, fing ich an, doch Danielle unterbrach mich.
»Onkel Robert sagt, daß Enid sich keine Gedanken machen soll. Die Heirat mit diesem Androctus – eigentlich mit egal welchem Ritter – wird ihr Leben kaum verändern. Er behauptet, jeder, der eine di Caela heiratet, wird dadurch ein di Caela, und sagt, daß sie hier im Schloß bleiben und im Prinzip so weiterleben kann wie vorher.«
»Gibt es da nicht so ein Gnomensprichwort?« fragte ich. »Ungefähr so: ›Wenn du über jemanden etwas erfahren willst, dann laß ihn in die Familie einheiraten.‹«
Beide Mädchen lachten traurig und nickten.
»Egal wie Gabriel Androctus ist«, verkündete Enid, »unsere Heirat wird das letzte Mal sein, wo ich etwas tue, was ich nicht will.«