»Soviel Glück?« tobte die Stimme los und versuchte, der schmalen Vogelkehle einen Schrei zu entlocken, während der Rabe in einem zunehmend hektischen Kreis zwischen Kamin und Bettpfosten herumflog. »Du nennst vierhundert Jahre vergebliche Bemühungen und vergebliche Pläne ›Glück‹?«
Der Rabe flatterte zum Fensterbrett, wo er mit seinen gelben Krallen zum Himmel über dem hohen Turm des Schlosses zeigte. Über dem konischen Dach, dessen Fahnenstange jetzt leer war, und hinter den dünnen Wolkenschwaden konnte ich sehen, wo die verfeindeten Konstellationen sich trafen, wo der Kiefer von Paladin dort an der nördlichsten Himmelsecke nach Takhisis’ Schwanz schnappte. Um diesen ewigen, unsterblichen Zwist glitzerten die kleineren Sterne wie Tausende von eingenähten Juwelen.
»Nein, kleiner Freund«, fuhr die Stimme fort, während der Rabe eine knochige, gelbe Kralle aus seinen Federn streckte und seine Augen erst rot, dann orange, dann gelb glitzerten.
»Bayard stürmt herbei, um Prophezeiungen zu erfüllen, die vor Jahrhunderten geschrieben wurden. Prophezeiungen, die die Niederlage von Benedikt di Caela und seinen Nachfahren verkünden.«
Ich nickte blöd, wie ein Junge, der dem Schulmeister zustimmt, obwohl die Stunde völlig an ihm vorbeigerauscht ist.
»Prophezeiungen, die von Männern stammen, die… vielleicht eine Vision empfangen haben. Eine Vision aus einem blendenden Verschmelzen von Licht und Begreifen. Doch hinterher, wenn die Vision vorüber ist und sie etwas daraus herleiten sollen – aus dem Chaos von Worten und Namen und Ereignisberichten, die noch gar nicht geschehen sind, sondern noch bevorstehen –, wer kann da behaupten, daß sie verstanden haben, was sie aufgeschrieben haben?
Wer kann behaupten, daß Bayard es verstanden hat? Denn ich will dir sagen, es gibt mehr als eine Art, diese Prophezeiung da zu lesen.«
Der Vogel hockte auf dem Fensterbrett und sah mich intelligent und grausam an. Da bemerkte ich zum erstenmal, daß seine Federn matt und stumpf waren, und daß die Daunen auf seinem Kopf schon dünn wurden, als wenn das Tier von einer seltsamen, zehrenden Krankheit besessen wäre.
Ich hörte etwas am Fensterglas und wandte mich diesem neuen Geräusch zu, wobei ich den Vögel sorgfältig im Blick behielt.
Im Hof fiel Schnee. Schnee im Frühherbst – unnatürlich und unheimlich. Während der Schnee fiel, sprach der Rabe.
»Kennst du die Geschichte von Enrik Sturmfeste?«
Ich kannte sie nicht und schüttelte stumm den Kopf.
»Enrik Sturmfeste – einst Ritter des Schwertes wie Bayard Blitzklinge, dann Ritter der Krone. Er wollte Ritter der Rose werden und strebte dies nicht an, weil er bei diesem Orden so viel Gutes vollbringen konnte, o nein, sondern wegen der Verlockungen von Ehre und Ruhm, die mit diesem Orden einhergingen.
O ja, ich weiß, daß ein Ritter nach beidem streben kann. Er kann sich gleichzeitig von ganzem Herzen nach dem Ruhm der Ritterschaft und nach den guten Taten sehnen. Ich weiß auch, daß an so einem Gleichgewicht der Bestrebungen nichts auszusetzen ist.
Nicht… unbedingt.
Es war Enrik Sturmfeste, der die Ritter gegen die Männer von Neraka führte, in die Pässe hinunter, wo dein Ahnherr« – er zeigte auf mich – »sich durch Tapferkeit auszeichnete, falls du dir das vorstellen kannst, und den Familiennamen errang, den du in den letzten miesen Monaten durch den Dreck gezogen und mit Füßen getreten hast…«
»Auf Euer Drängen hin!« schrie ich, und der Rabe lachte.
»Das sei noch dahingestellt, kleines Wiesel. Aber zurück zu Enrik Sturmfeste. Es gibt ein Gerücht, daß er einen Calantiner um Rat gefragt hat. Vielleicht hast du von ihnen gehört. Es sind Priester des falschen Gottes Gilean oder zumindest die falsche Version dieses falschen Glaubens, wie er in Estwilde auftritt. Sie lesen aus den roten Würfeln und deklamieren Verse über Tiere. Und nennen das Prophezeiung.«
Seine kleinen, schwarzen Äuglein glitzerten vor Bosheit. Sie waren hellwach – die kalten Augen einer Viper.
»Ich kenne die Calantina. Aber was war mit Enrik?«
»Nun, auf Enriks Schultern lastete die Verteidigung von ganz Solamnia. Obwohl er ein tapferer, ehrenwerter Ritter war, war das eine schwere Last. Er war sich nicht so sicher, ob seine Strategie klug oder sein Herz stark genug war, darum fragte er den Calantiner nach dem Ausgang des Feldzugs. Hätte er nicht gefragt, sondern sich auf die Eingaben seines großen Mutes verlassen und den Wegen und dem Willen der Götter vertraut, hätten wir ihm da nicht mehr vertraut und mehr an ihn geglaubt?«
»Der Calantiner, Sir. Die Prophezeiung.«
»Der Calantiner warf die Zwei und die Zehn«, erklärte der Rabe, um dann den Kopf zurückzuwerfen und rauh zu lachen.
Zwei und zehn. Zeichen des Raben.
»Das Orakel selbst hatte natürlich recht. Das Zeichen des Raben ist das der Illusion. Man wiegt sich auf gefährlichem Boden fälschlich in Sicherheit. Nicht wahr, Galen Pfadwächter?«
Ich stammelte herum.
»Das ist eine Auslegung, Sir.«
»Wie ein richtiger Calantiner«, grinste der Rabe gemein. »Natürlich nickte der Calantiner, der für Enrik die Würfel befragte, wiederholt und sagte: ›Sir, das Orakel sagt, daß Eure Verteidigung von Solamnia gegen die Truppen von Neraka Eure letzte Schlacht sein wird. Danach werdet Ihr und Solamnia wieder Frieden finden.‹
Und Enrik war erleichtert über das Orakel, das ihm und seinen Armeen Erfolg verhieß. In der einen Auslegung.
Dann geschahen andere Dinge – die sich Enrik nicht hatte vorstellen können, und die die Calantiner nicht gesagt hatten, ob sie das nun vorhergesehen hatten oder nicht. Was spielt das schließlich auch für eine Rolle? Der Frieden, der für Solamnia kam, stammte tatsächlich von dem siegreichen Feldzug, den Enrik Sturmfeste führte, der eine Handvoll Männer am Chaktamir Paß zurückließ, wo sie die Armee von Neraka von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aufhielten, womit sie für die Solamnier unter enormen Verlusten wertvolle Zeit erkauften.
Zweihundert Ritter sollen diesen Paß verteidigt haben. Fünfzehn überlebten, um von diesen Helden zu erzählen.
Unter ihnen dein Vater, Galen.«
»Er redet aber nicht viel davon. Und was war mit Enrik?«
»Enrik. Der fand auch Frieden, wie der Calantiner es vorhergesagt hatte. Während die tapferen Männer Chaktamir hielten, führte Enrik seinen Trupp zu einem anderen Übergang, der nicht leicht zugänglich war. Sie umgingen die Nerakaner im Süden und brachten den Tod aus dem Osten. Von den tausend Nerakanern im Paß überlebte nicht ein Mann.
Aber der Friede, den Enrik fand, war der Schlaf des Todes, den ihm in der letzten Stunde des Kampfes ein nerakanischer Pfeil brachte. Als er die siegreiche Fahne der solamnischen Armee hochhielt, sprang ein verwundeter Bogenschütze, der wie tot mitten auf dem Paß gelegen hatte, auf und schoß Enrik Sturmfeste einen schwarzen Pfeil in den Hals.«
»Einen schwarzen Pfeil?«
»Rabenfedern, Galen Pfadwächter. Also hatten die Calantiner recht, und das Zeichen des Raben triumphierte auf eine Weise, die kein Mensch – nicht einmal die Calantiner selbst – vorhergesehen hatte.«
»Das ist ja alles gut und schön, Sir, aber ich gebe zu, daß ich nicht recht weiß, was diese ganze Geschichte von Enrik Sturmfeste zu bedeuten hat. Was hat sie mit Eurer Anwesenheit hier in Kastell di Caela zu tun? Heißt das nun, daß Prophezeiungen etwas ganz anderes bedeuten können, als wir glauben? Wenn das so ist, dann werde ich mir diesen Rat bestimmt zu Herzen nehmen. Unheilvolles Gerede ist gar nicht nötig.«
»Oh… Prophezeiungen können für unterschiedliche Ohren unterschiedliche Dinge bedeuten. Das ist sogar mit Orten so«, krächzte der Rabe.
»Was bedeutet Chaktamir für Euch?« Der Vogel legte neugierig und verschlagen den Kopf schief. »Ich meine… es ist Geschichte, Sir. Wo die Solamnier die Nerakaner aufgehalten haben. Wo Vater gekämpft hat.«
»Oh, aber es ist noch so viel mehr«, krächzte der Rabe trocken. »Für unterschiedliche Augen können Orte Unterschiedliches bedeuten. Genauso wie Geschichten, junger Mann.«