Die Entdeckung des Passes, die schnelle, ungehinderte Reise: Das alles war für Brithelm erstaunlich. Die Leichtigkeit war ein sicheres Zeichen, daß die Hand des Schicksals die Geschicke seines älteren Bruders lenkte. Und doch, als sie in Kastell di Caela ankamen, war zu seiner großen Überraschung – offenbar auch zu Alfriks – das Turnier schon vorbei. Sir Robert di Caela war höflich, jedoch abgelenkt und in Gedanken, als er ihnen Zimmer im Schloß zuwies und die beiden ausgiebig lobte, weil sie den rauhen, gefährlichen Weg überstanden hatten.
»Aus irgendeinem Grund ist Sir Robert allerdings über Bayard Blitzklinge äußerst ungehalten«, schloß Brithelm und starrte mich neugierig an. Es war, als würden seine Augen mich durchbohren.
Er stand vom Bett auf, wo er gesessen hatte, und ging zum Fenster. Zärtlich hob er den leblosen Körper des Vogels auf und hielt ihn in den Händen.
»Der arme Kerl muß hier reingeflogen sein und sich am Fenster zu Tode gestoßen haben. Komisch, Galen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Komisch, daß die Diener ihn nicht weggenommen haben, bevor sie dich hier unterbrachten. Er ist schon tagelang tot. Wie traurig.« Wenig feierlich warf er den Vogel aus dem Fenster.
»Jedenfalls ist das nichts, was ein kranker Junge in seinem Zimmer haben sollte.«
Schon tagelang tot. Wie der Gefangene in der Wasserburg.
Ob es nun vom Wein kam oder vom Fieber, oder ob ich vom Liegen müde war, meine Augen schwammen plötzlich in Tränen. Ich hatte Mühe, sie zurückzuhalten, als ich lossprudelte.
»Brithelm, ich habe furchtbare Dinge getan.«
Er sah mich scharf an und nickte. Und ich erzählte meine Geschichte oder zumindest das, was ich zu erzählen wagte.»Dieser Vogel war also Benedikt di Caela?« fragte Brithelm zwischen zwei Mundvoll hartgekochtem Ei.
»Nein, verdammt noch mal! Dieser Vogel war eine Zwischenstation für Benedikt di Caela, für Gabriel Androctus, für den Skorpion, was immer du willst. Wer oder was er auch ist, er ist immer noch hier im Schloß und heckt gemeine Pläne aus.«
Brithelm war sofort auf den Beinen und lief zur Tür.
»Du und ich müssen einfach zu Sir Robert di Caela gehen und ihm sagen, daß dieser… Gabriel Androctus, den er als seinen zukünftigen Schwiegersohn betrachtet, in Wirklichkeit der wiederauferstandene Familienfluch ist.«
»Das glaube ich kaum, Brithelm. Wer weiß, was für fiese Tricks der alte Benedikt noch im Ärmel hat.«
»Dann wird es auch Zeit, Sir Bayard die ganze Geschichte zu erzählen, Galen. Dann wärst du nicht ganz ohne Beschützer.«
»Oh, das glaube ich kaum, Brithelm! Für dich ist die Welt vielleicht wirklich ein Ort des Vertrauens, aber ich kann mich darauf verlassen, daß Bayard Blitzklinge mich zerlegt, wenn er diese Geschichte erfährt.«
»Dann«, entschied Brithelm, »ist eben Zerlegen angesagt. Möchtest du deine Suppe?«
»Nein… Ich bin kein bißchen hungrig. Auch kein bißchen nüchtern nach dem ganzen süßen Wein, den du mir verabreicht hast. Ich bin aber noch nicht betrunken genug, um alles aus meiner dunklen Vergangenheit zu gestehen. Ich fürchte, dazu brauchte ich Zwergenschnaps oder Stärkeres.«
Brithelm nickte und versenkte sein breites Gesicht in der Suppenschüssel. Als er wieder Atem holte, hatte er wenig zu sagen.
»Wir gehen zu Bayard, sobald du das Fieber überstanden hast. Also, wir müssen zu ihm. Denk doch mal an Sir Robert. Denk an Enid – wenn auch nur die Hälfte von dem, was der Rabe verkündet hat, wahr ist, schwebt sie in schrecklicher Gefahr. Denk an Agion.«
Irgend etwas jenseits von Wein und Fieber zwang mich dazu. Dieses Mal war ich mir sicher.
»Brithelm, ich muß es heute nacht tun. Morgen mittag wird Bayard schon fort sein – darauf kannst du wetten. Er ist zu niedergeschlagen, um zur Hochzeit zu bleiben. – Die Hochzeit!«
»Hab ich auch vergessen«, erklärte Brithelm ruhig. »Sind das da am Boden der Schüssel Kartoffeln? Ich habe sie übrig gelassen, weil ich dachte, es sind Rüben.«
»Wir müssen Bayard holen, und zwar heute nacht!«
»Sehr richtig«, stimmte Brithelm zu und beugte sich neugierig über die Suppenschüssel.
Er sah mich wieder an, als ob er durch mich hindurch sehen könnte.
»Und keine Lügen diesmal, Galen. Nicht wie Alfrik.«
Er mußte meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er lachte, schaute nach unten und rührte mit seinem Finger in der Schüssel herum.
»Du hast doch nicht etwa gedacht, ich hätte unserem Bruder seine Heldengeschichten geglaubt?«
»Aber warum…«
Er blickte wieder hoch und lächelte mich an.
»Einfach weil es ihm dann besser geht. Er war furchtbar beschämt – immer wieder hatte man ihn als Knappe übergangen, und als er schließlich etwas dagegen tun wollte, hat ihn sein kleiner Bruder bis zum Bauch im Wächtersumpf stecken lassen, wo er um Hilfe schrie, bis sein mittlerer Bruder ihn retten kam. Er brauchte ein bißchen… Ausschmückung für seine Geschichte, den Teil, wo er der Held war.«
»Aber was ist mit mir, warum soll ich Sir Bayard alles erzählen?«
»Gleicher Grund.«
Wieder blickte er in die Schüssel und rührte noch etwas um.
»Kartoffeln werden so durchsichtig, wenn man sie zu lange kocht. Sind das hier Rüben, Galen?«
Er hielt mir die Schüssel hin und hatte wieder sein seliges, leeres Grinsen aufgesetzt.
Wie man sich leicht vorstellen kann, war Bayard nicht gerade übermäßig erfreut, mich zu sehen. Die Nachtluft drang noch viel eisiger durch meinen Mantel als oben in den Bergen, so daß ich zitternd zu dem Pavillon kam, wo am Nachmittag seine Standarte gehißt worden war, und wo er allein und abseits von den anderen Rittern saß. Er hatte sich in die Decke gewickelt, aus der er den prächtigen Schild der Blitzklinges gezogen hatte, und zitterte ebenfalls in der kalten Herbstnacht. Der Schild lag mit der Vorderseite zur Erde achtlos neben ihm.
Die Nacht war immer noch bewölkt und kühl. Nicht weit von Bayard tranken die anderen Ritter Roka, machten Musik und erzählten sich Geschichten. Sie genossen die Gesellschaft, bevor die meisten von ihnen ihr Lager abbrechen und nach Palanthas, Kargod und Solanthus aufbrechen würden, zu den wenigen Orten, wo der Orden immer noch zugelassen und sogar willkommen war. Als Brithelm zwischen ihnen hindurchging, blieb ihm vor Staunen über die Geschichten der Ritter der Mund offen stehen.
»Glaubst du, daß das wahr ist, Galen – all diese Geschichten über Seeungeheuer und Entführungen durch Adler? Glaubst du, daß Sir Ramiro da drüben wirklich ein sprechendes Schwert hat?«
»Ich schätze, es tut ihm einfach gut, den anderen davon zu erzählen, Brithelm«, antwortete ich geistesabwesend, weil mein Blick durch den Halbschatten von Feuerschein und Dunkelheit auf das Lager meines vormaligen Beschützers fiel.
Der am Rand im Zwielicht vor sich hin brütete und seine Aufmerksamkeit offensichtlich auf die Sterne gerichtet hatte. Es war ein regelrecht mitleiderregender Anblick, und ich fürchte, Bayard tat mir richtig leid.
Ich versuchte, an dem Trubel vorbeizuschlüpfen, und hätte dies auch leicht geschafft bei all den Geräuschen, dem Becherklappern und den Prahlereien.
Aber der Rauch von den Lagerfeuern oder der Staub, den der Wind aufwirbelte, (oder vielleicht auch nur die schiere Müdigkeit) brachten mich dermaßen zum Niesen, als hätte ich mich quer durch ein Feld voller Goldruten gewälzt. Als der Anfall vorbei war, schniefte ich und lief weiter, als ob ich zum Lager gehörte oder eine Nachricht für meinen Herrn hätte, die keinen Aufschub duldete.
Sir Ramiro vom Schlund mit seinen vierhundert Pfund hielt mich auf, bevor ich zu Bayard gelangen konnte.
»Ich würde nicht zu ihm gehen, wenn ich du wäre, Junge. Er scheint nicht so zufrieden mit den ganzen Begleitumständen dieses Turniers zu sein, und soweit ich das sehe, hattest du bei seiner Verspätung ein bißchen die Hand im Spiel.«
»Also redet er darüber, ja?« fing ich an. Doch Ramiro wedelte so rasch mit seinen fetten Händen, daß seine Unterarme bebten.