Als ich Sir Robert von den Drohungen des Skorpions bezüglich Enids Leben erzählt hatte, überflutete der alte Mann den Hof von Kastell di Caela mit bewaffneten Wachen.
Man konnte nirgends im Mondschein Spazierengehen, sitzen oder herumstehen, ohne gleich von übereifrigen Beschützern angesprochen zu werden – sofort kam das »Wer da?«, dem ein Schwall von Fragen folgte, was man im Schloß zu suchen hatte und warum man noch bei Nacht unterwegs war; Fragen, die den Familienstammbaum auf fünf Generationen prüften, wobei durchaus die Möglichkeit bestand, daß irgendein entfernter unsolamnischer Vorfahre einem eine Nacht im Wachhaus einbringen konnte.
Deshalb war der Obstgarten eine willkommene Abwechslung. Dort hatte ich mir zwischen den Pfirsich- und Birnbäumen unter Lady Enids Fenster ein Lager eingerichtet.
Die Wachen umkreisten den Obstgarten in einiger Entfernung, und hin und wieder riefen sie einander etwas zu. Doch Lady Enids Garten war anscheinend ihr ganz privates Refugium, und nachdem die Wachen ihn am frühen Abend sorgfältig durchsucht hatten, ließen sie ihn in Ruhe. Schon eine Stunde nach Anbruch der Nacht war er voller Nachtigallen und Eulen, die in den Bäumen ihren alten Wettstreit austrugen.
Es waren nicht nur echte Vögel da, sondern auch Vögel aus immergrünen Gehölzen. Der Obstgarten war auch ein Ziergarten, in dem Büsche in vielerlei Formen zu kleinen Tieren und Vögeln zurechtgestutzt waren. Es gab Eulen und Nachtigallen und Eichhörnchen und Kaninchen, die aus Wacholder, Ewigkeitsbaum und anderen Gewächsen geschnitten waren.
Eine Zeitlang stand ich da, starrte zu dem schwachen, flackernden Licht aus Enids Fenster empor und atmete die starken, frischen Düfte des Obstes und der Büsche ein. Dieser Ort war der Traum jedes Romantikers und wurde nur durch den gelegentlichen, entfernten Ruf einer Wache gestört. Ich wich gegen eine Wacholdereule zurück, wo ich in Ruhe die Düfte, die Lieder der Vögel und das weiche Licht genießen wollte.
Plötzlich schlossen sich Hände um meine Kehle, und eine rauhe, bekannte Stimme zischte mir ins Ohr.
»Ich habe dir einiges heimzuzahlen, Brüderchen. Und damit fangen wir jetzt an.«
Anscheinend war Alfrik mir aus dem Tor um den Burgfried herum gefolgt und hatte sich unter den Zweigen und in den Schatten der Mauern versteckt gehalten. Mein Gesicht war halb im Rücken der Ziereule vergraben.
»Bitte laß mich hoch«, stammelte ich, denn mein Mund wurde gegen Nadeln und hartes Holz gedrückt.
»Wie du mir damals im Sumpf rausgeholfen hast? Oh… ich hätte Lust, dich zu erwürgen, Wiesel, und dein Gesicht da unten in dem Grünzeug zu begraben. Wie schmecken die Nadeln, Brüderchen? Wo versteckt sich deine Weisheit jetzt?«
Dennoch lockerte sich sein Griff, und ich konnte besser reden.
Mich reden zu lassen, war schon immer Alfriks Fehler gewesen.
»Ich habe gesagt, laß mich lieber hoch. Wenn du dieses vertraute Gesicht zu Brei schlägst oder anderweitig veränderst, wird Sir Bayard dich nicht als Knappe nehmen. Und auch keiner von den anderen Herren hier, falls irgend etwas meine hinreißende Nase verunstaltet.«
»Was ich nicht so schlimm finde, Galen, in Anbetracht der Tatsache, daß ich vorhabe, Lady Enids Hand festzuhalten«, erklärte Alfrik stolz, während er mich noch tiefer in den Busch drückte.
»Es heißt, ›um die Hand anhalten‹, und ich fürchte, da hast du Pech. Das Turnier ist schließlich vorbei, wie du weißt.«
Nach einem letzten Schubs in die dicken Nadeln ließ Alfrik mich hochkommen.
»Möglich, daß ich Pech habe, aber dann gibt es da ja noch dieses Wieselglück von dir, durch das du immer auf die Füße fällst.«
»Das heißt?«
»Das heißt, daß du hier bist, um meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. So ist das nämlich«, knurrte Alfrik. Er legte mir die Hand auf den Mund, um meine Hilferufe zu dämpfen. Dann ergriff er meinen rechten Arm und verdrehte ihn so weit, bis mein Ellbogen mein Rückgrat berührte und mein Daumen meinen Nacken. Ich suchte nach einer schlauen Antwort, aber bei dem Schmerz, der meine Schulter durchraste und den Verstand betäubte, alles außer dem Schmerzempfinden betäubte, fiel mir nichts ein. Ich japste nach Luft.
»Warum sollte ich, Bruderherz?« keuchte ich und sah mich schon ohnmächtig werden.
»Der Sumpf«, sagte Alfrik. »Erinnerst du dich an den Sumpf?«
»Oh.«
»Ich habe von deinem Geständnis gehört, Wiesel, aber rein zufällig – ganz sicher absichtlich – hast du wohl den Teil ausgelassen, wo du deinen älteren Bruder im tödlichen Treibsand stecken ließest. Eine sehr praktische Lücke, denn es weiß ja jeder, daß Gewalt gegen Blutsverwandte die schlimmste Verletzung des Kodex von Solamnia ist. Ich glaube nicht, daß Sir Bayard und Sir Robert ein so, sagen wir mal, ungezogenes Verhalten übersehen könnten? Was meinst du, Bruderherz?«
Quälende Pause. »Zu – deinen – Diensten«, stammelte ich, während ich um Atem rang. Alfrik lockerte seinen Griff. Luft und Denkvermögen kehrten zurück, als mein Bruder sich über mich beugte und flüsterte:
»Gut. Ich habe die Laute mitgebracht. Was machen wir jetzt, Galen? Du bist doch gut in solchen Sachen.«
Er wirbelte mich herum, zog mich zu seinem Gesicht hoch und zückte seinen Dolch, und ich erinnerte mich an den Geruch meines Bruders. An den Geruch von Wein und halbverdautem Essen und von etwas, das hinter diesen anderen Gerüchen immer am Rande des Wahnsinns entlangkroch.
Alfrik drückte mir die Messerspitze unter das Kinn, wodurch er einen leichten, aber einschüchternden Schmerz verursachte. Dann setzte er mich ab und versteckte sich, wobei er mich grob hinter sich her an die Brust der Buscheule zerrte.
»Alles ist nahezu perfekt«, krächzte Alfrik. »Ich bin zum Turnier zu spät gekommen, so daß ich nicht an den Kämpfen teilnehmen mußte, wo mich jeder gleich beim ersten Schlag umgehauen hätte. Jetzt stellt sich heraus, daß der Ritter, der gewonnen hat und dessen Knappe ich werden wollte, ein Hochstapler ist und überhaupt nicht gewonnen hat. Darum war ich eine Zeitlang noch wütender auf dich, weil du es wieder vermasselt hast, daß ich Knappe werde. Aber inzwischen finde ich, daß es so sogar noch besser steht, weil das Turnier nichts mehr zählt, und Lady Enid und ihr Erbe sind eine fette Beute.«
»Eine fette Beute? Das klingt aber sehr romantisch, Alfrik.«
»Romantik ist jetzt deine Sache«, zischte mein Bruder. »Du bist in solchen Dingen besser als ich. Sag du mir vor, was ich unter Lady Enids Fenster sagen soll. Du spielst die Laute und singst, als wenn ich es wäre. Wenn nicht«, sagte Alfrik trocken und gefühllos, »bringe ich dich um.«
Damals, als wir in den Gängen und Zimmern der Wasserburg aufgewachsen waren, hatten wir beide oft davon geträumt, den anderen umzubringen, da bin ich mir sicher. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß ich laufend von Alfriks vorzeitigem Ableben geträumt hatte. Nachts stellte ich es mir vor, wenn ich in meinem Zimmer lag, oder tagsüber, während ich in meinem Geheimversteck hinter dem Kamin des großen Saals saß.
Normalerweise waren große, hungrige Raubtiere daran beteiligt.
Aber wir waren beide zu alt für die alten Drohungen, für das wütende »Ich bring dich um, ich bring dich um!«, das unsere militante Kindheit begleitet hatte. Diesmal meinte Alfrik es vielleicht ernst.
»Mach deine Sache lieber gut, Wiesel«, flüsterte Alfrik. Er ließ mich los und schubste mich gegen den Bauch der Eule. Dann klopfte er sich ab, leckte sich die Finger und fuhr sich damit wie mit einem grotesken Kamm durch die Haare. Er trat auf eine Lichtung des Obstgartens, die leicht von Sternen und von dem Feuerschein aus Enids Fenster und den anderen Fenstern auf dieser Seite der Burg erhellt wurde. Ich durfte ihr den Hof machen, aber nur für ihn. »Hallo, Lady Enid«, rief Alfrik zum Fenster hoch. Er sah gleich beifallheischend oder ratsuchend zu mir hinüber. »Prima!« flüsterte ich aus dem Bauch der Eule. Alfrik lächelte dämlich und freite weiter. Ein leises Geräusch erklang vom Fenster – ein unterdrückter Laut, den ich für Lachen hielt, doch Alfrik, der von seiner so beredten Zunge ganz berauscht war, nahm ihn zweifellos als Zeichen der Bewunderung.