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Aber er hatte keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte. Deshalb trat er vom Fenster zurück und sah mich entsetzt an. Ich krabbelte unter dem Eulenflügel hervor, weil ich hoffte, Schatten zwischen mich und meinen Bruder zu bringen – Schatten, über die ich entwischen und in mein Zimmer zurückkehren konnte. So würde ich meine Ruhe haben, und Alfrik – nun, Alfrik konnte mit seinen eigenen Talenten den Flirt seines Lebens durchführen. Wenn er seinen eigenen Charme und seine Möglichkeiten einsetzte, konnte mein Bruder vielleicht sogar einen vierhundert Jahre alten Fluch attraktiv erscheinen lassen.

Über uns trieben schiefergraue Wolken vor den Monden vorbei und änderten ständig das Licht um uns herum.

Alfrik verfolgte mich und verlor mich nur für einen Moment unter den hellblauen Nadeln eines gigantischen Ewigkeitsbaums. Er fand mich schnell genug wieder, denn er sah mich, als ich losrannte, und konnte mich deshalb schließlich zwischen ein paar Spatzenbüschen in die Enge treiben, die raschelnd ihre Beeren fallen ließen, als Alfrik mich an den Schultern packte und mich flehend schüttelte.

»Du weißt nicht, wie schwer es ist, der Älteste zu sein, Wiesel. So viel Verantwortung fällt dir zu, bloß weil du der erste bist. Man muß mit allem fertig werden, was jüngere Brüder anstellen – Mystizismus, Diebstahl, üble Nachrede –, und das auch noch lächelnd, weil man eben der Älteste ist und es darum selbstverständlich ist, daß man damit fertig wird.«

»Hör auf, mich zu schütteln, Alfrik.«

»Klappe. Ich habe dir lange und oft zugehört. Aber hat sich jemals jemand um Alfrik gekümmert? Hat jemals jemand gefragt, was Alfrik gefallen würde?«

»Nun, ich…«

»Klappe.« Seine Stimme war etwas zu laut. Er hielt inne und sah sich um. »Ich habe es satt, mich immer um andere zu kümmern, immer der besorgte ältere Bruder zu sein. Was ich viel lieber möchte, ist, etwas Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, damit ich einmal etwas für mich und nur für mich allein tun kann.«

Ein Hauch von Schmerz und Angst glitt über sein Gesicht. Die Szene hätte mitleiderweckend sein können, wenn ich nicht gewußt hätte, daß Alfrik in jedem wachen Moment seit seiner Kindheit darauf aus gewesen war, etwas für sich und nur für sich allein zu tun.

»Und du wirst mir dabei helfen, kleiner Bruder. Du und deine Worte und deine Dreistigkeit«, grollte Alfrik, wobei er einen Zweig vom Busch brach und ihn irritierend vor meiner Nase herumschwenkte. Der scharfe, minzeartige Geruch der roten Nadeln brachte mich fast zum Niesen.

»Sieh mal«, fuhr Alfrik fort, »ich werde jetzt wieder da auf die Lichtung an der Burgmauer gehen, wo Lady Enid mich genau im Blick hat. Von da aus kann ich ihr den Hof machen. Du versorgst mich mit Versen für sie, Wiesel.«

Unvermittelt zerrte er mich am Kragen unter Enids Fenster zurück, wo er mich auf Armeslänge hochhielt und mitten in eine Wacholdernachtigall hängte. Ein ziemlich buschiges, überwachsenes Ding, das unter einem der höheren Birnbäume saß.

Ich versteckte mich, während Alfrik teilweise sichtbar und sehr romantisch zwischen Mondschein und Schatten auf der Lichtung stand. Er stand – und ich baumelte – eine gute Minute lang schweigend da, bis mir klar wurde, daß er darauf wartete, daß Enid ans Fenster trat.

»Sie wird sich nicht zeigen, Alfrik, wenn du sie nicht wissen läßt, daß du hier draußen bist.«

Ich hustete und würgte, weil mein Kragen sich fester zuzog. Er ließ mich trotzdem am Baum hängen.

»Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame«, flüsterte ich.

»Was?«

»›Kehrt ans Fenster zurück, schöne Dame.‹ Das ist deine erste Zeile.« Ich fand einen Zweig mitten im Busch, auf den ich einen Teil meines Gewichts verlegen konnte, wodurch ich etwas den Druck von meinem Hals nahm.

»Verstehe ich nicht«, murmelte Alfrik. Eine Hand drückte mich noch tiefer in die Nadeln und Zweige, während er sich mit der anderen am Kopf kratzte.

»Du wolltest ein Gedicht, Alfrik. Ich gebe dir gerade die erste Zeile.«

»Hab ich schon wieder vergessen.«

»›Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame‹, verdammt noch mal!«

»Kehrt zum Fenster zurück, schöne Dame, verdammt noch mal!« schrie er laut unter Enids Fenster. Stille. Hinten im Zimmer flackerte ein Lichtschein, der von den obersten Zweigen des Baumes reflektierte. Alfrik sah zu mir, weil er die nächste Zeile erwartete. Ich reimte, so schnell ich konnte.

»Solange im Garten die Lichter tanzen.«

»Was?«

»Deine zweite Zeile«, erklärte ich. »›Solange im Garten die Lichter tanzen.‹«

»Ganz sicher, daß sie was über einen Garten hören will?« flüsterte Alfrik. »Wollen Mädchen nicht lieber etwas über sich selbst hören?«

»Gleich, Bruder«, erwiderte ich, während ich mich seiner Hand entzog und in die Zweige der Nachtigall kroch. »Zuerst sorgst du für die richtige Stimmung. Die Dichter nennen das ›Atmosphäre erzeugen‹.«

Alfrik starrte in den Vögelbusch und suchte ihn lange und mißtrauisch nach mir ab. Schließlich gab er auf, drehte sich wieder zum Fenster um und deklamierte laut:

»Solange im Garten die Lichter tanzen.«

Ein erstickter Ton kam vom Fenster herunter.

Lachen? Wer konnte das sagen?

Ich dichtete einen Moment schweigend, um dann meinem Bruder vorzusprechen. »Solang’ der Mond tief am Abendhimmel schwebt, getragen von den Schwingen der Nacht.«

»Was?«

»Um Humas willen, Alfrik, sperr die Ohren auf und hör zu, was du sagen sollst! Es ist nicht gerade Quivalen Soth, aber für eine Romanze im Garten reicht es!«

Er drehte sich zum Fenster um und sprach laut:

»Solang’ der Mond am Abend tief steht und irgendwas bei Nacht passiert.«

Ich fand meine Zeile gar nicht so schlecht, aber so wie Alfrik sie auslegte, war sie schauderhaft.

»Toll, Alfrik«, schimpfte ich. »Einfach großartig. Mit so einem Lobgesang könntest du nicht einmal Lexine, die Tochter des Kochs, für dich gewinnen.«

Auf einmal hörten wir über uns aus Enids Zimmer einen lauten, verzweifelten Angstschrei. Nachdem der Schrei verklungen war, war es im Schloß und im Obstgarten furchtbar still.

Verwundert zog Alfrik mich aus der Nachtigall. Wir starrten einander an – der dumme Kinderblick, wenn man etwas kaputtgemacht hat und dann dasteht und versucht, den anderen einzuschätzen: »Kann ich ihm soweit vertrauen, daß wir Stillschweigen verabreden?« oder »Ist er dumm genug, daß ich ihm die ganze Schuld dafür zuschieben kann?«

Während wir uns anstarrten, senkte sich Stille über die Büsche und Schatten um uns herum. Die Vögel, die bei Alfriks Dichtkünsten unbeeindruckt weitergesungen hatten, schwiegen jetzt bei den Schreien von oben.

Denn über uns hörten wir Bewegungen, Durcheinander und unablässige Schreie.

Ich wollte zur Burgmauer rennen, weil ich irgendwie daran hochklettern und durch Enids Fenster stürmen wollte…

Doch Alfriks Hand hielt mich zurück. Mein Bruder warf sich in den Nachtigallbusch zurück und zog mich mit.

Es war dieser Vogel, der uns verschluckte – meinen Bruder und mich –, als in Enids Fenster Schatten auftauchten. Wie gelähmt beobachteten wir aus dem Busch heraus, wie sich ein finsterer Kegel aus dem großen Burgfenster hob und dieser Schemen rasch die Wand hinunter kletterte.

Im Mondlicht bewegte er sich rasch über den Hof. Doch weder das rote, noch das weiße Licht konnten die dichte Undurchsichtigkeit durchdringen. Die Oberfläche war pockennarbig und getupft wie geschmolzenes Wachs, das mit kaltem Wasser abgelöscht worden war.