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Von drinnen glaubte ich Schreie zu hören.

Ich kämpfte mit den duftenden, grünen Zweigen um mich herum. Noch einmal versuchte ich, mich von meinem Bruder loszureißen, um die Burg zu erstürmen und die bedrängte Maid zu retten, wie das jeder gute Ritter in jeder alten Geschichte tun würde. Doch Alfrik hielt mich nur noch fester, zog wieder sein Messer und drückte es mir unangenehm in die Rippen. Es war erfrischend, nicht der feigste Pfadwächter zu sein.

Im unsteten Mondlicht sah ich den Schatten rasch auf das Tor zuhuschen. Zwei brüllende Wachen liefen fast gleich schnell, als sie verzweifelt versuchten, ihm den Weg abzuschneiden.

Der Schatten legte an Tempo zu, als wenn ihn etwas von innen lenkte und mit wachsendem Willen und Dringlichkeit antrieb. Er traf sie mit einem scharfen, klatschenden Geräusch, wobei sie umfielen.

Ihre Schreie waren unbeschreiblich.

Da hörte ich wieder die Schreie aus dem Fenster über mir dringen. Sie waren nicht mehr erstickt, sondern nur irgendwie gedämpft, als wenn die, die schrie, weit weg war, und als wenn der Ton mich aus der Ferne und viel zu spät erreichte.

Der Schatten wurde immer kleiner, als er durch das Tor in den Außenmauern des Schlosses verschwand und von da aus irgendwo in den Ebenen verschwand. Die Richtung war mir nicht klar.

»Alfrik!« rief ich laut. Hinter mir war nichts zu hören, außer brechenden Zweigen, Schluchzen und dem Geräusch, wie etwas Großes und Trampliges in der Finsternis verschwand.

»Verdammt!« murmelte ich und wollte meinem Bruder folgen. Die Schreie über mir hielten mich davon ab.

Wenn ich heute daran denke, scheint es das Dümmste zu sein, was ich je getan hatte, zumindest bis dahin. Na ja, dem Skorpion beim Diebstahl der Rüstung zu helfen, war vielleicht fast genauso genial.

Ich hielt mich an dem Weinspalier an der Turmwand fest und kletterte so zu Lady Enids Fenster hoch, wo ich mich über die Fensterbank hievte und hineinkippte.

Danielle di Caela lag gefesselt auf dem Bett und schrie mit panisch verzerrtem Gesicht. Jetzt war mir klar, daß Lady Enid in den Schatten von Kastell di Caela zu irgendeinem dunklen Ziel verschleppt wurde. Den Zweck konnten nur die Götter kennen.

Aber ich wußte, daß der Skorpion irgendwo in den nächsten Tagen seine schlimmste Drohung wahr machen würde.

Eigentlich konnte ich nur noch ins Erdgeschoß des Südostturms gelangen, aber nicht mehr die Treppen hoch laufen, die außen an ihm hochführten. Dennoch rannte ich die Stufen hoch, wobei ich zwei oder drei Mal anhielt, um Luft zu holen, und mich fragte, wie Muriel di Caela je all diese Katzen dort hochgeschafft hatte. In mir wuchs das Gefühl der Verzweiflung, weil ich – obwohl ich diesen ewig hohen Turm hoch lief – bestimmt nicht mehr sehen würde, was ich so dringend sehen wollte.

Ich war fast an der Spitze des Südostturms, als ein Fenster mir einen Blick auf die Ebenen im Osten des Schlosses gewährte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, blinzelte und schaute zum Horizont hin.

Wo das rote Licht von Lunitari einen dunklen Schatten anstrahlte, der sich eilig auf die Trotylhalde zu bewegte. Den Weg dahinter kannten nur die Götter.

Zum Schlupfwinkel des Skorpions

Neun auf zwei, Zeichen der Eule, alter Späher, der jede Richtung sieht, Seemann in verwirrender Nacht, wo Länder brennen, verschwinden, niemals waren, Vor sich blickt er und hinter sich, wo im Feuerschein das Mögliche auftaucht.
Die Calantina II:IX

16

Erst nachdem die Schloßwache von Kastell di Caela in Lady Enids Zimmer gestürmt war, sollten wir erfahren, was geschehen war. Denn dort fand sie die sehr liebliche und sehr bewußtlose Danielle di Caela, die nach ihrem Erwachen von der mysteriösen Entführung erzählte.

Sie und Enid hatten an Lady Enids antikem Frisiertisch gesessen und sich über die gescheiterte Werbung von Gabriel Androctus lustig gemacht, dem Enid immerhin »die Aura eines Abenteurers« zugestand. Da hatte sich eine Wolke – eine Art Finsternis – über den Kamin gesenkt und das Licht des Feuers verschluckt.

»Erst dachten wir, der Kamin wäre kaputt«, erklärte Danielle schwach, wobei sie von Zofen und Kissen gestützt wurde. »Vielleicht irgend etwas mit dem Abzug, schlug ich vor, denn der Abzug ist der einzige Teil vom Kamin, den ich kenne. Und Base Enid ging zum Kamin, hob ihre Röcke hoch und hörte überhaupt nicht auf meine Warnung, sie sollte doch stehenbleiben – gleich würde sie in Rauch und Asche stehen, die ihr Kleid und auch ihren Teint ruinieren würden. Aber ihr kennt ja Base Enid.

Sie trat zum Kamin, und mit einem Mal war sie einfach verschwunden. Ich konnte sie irgendwo in der Finsternis strampeln und schreien hören und rannte sofort hin, um ihr zu helfen… aber dann lag ich plötzlich gefesselt und geknebelt hier auf dem Bett. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war, bis ich das Strampeln und Schreien vor dem Fenster hörte. Es kann nicht lange gewesen sein.

Ich habe versucht, mich aus den Fesseln zu befreien oder den Knebel zu lockern, damit ich um Hilfe rufen konnte. Aber ich konnte mich absolut nicht bewegen und… mehr möchte ich nicht dazu sagen.«

Während ich der schlimmen Geschichte zuhörte, stand ich an dem alten Frisiertisch, so weit wie möglich von Danielle entfernt. Ich schämte mich bei der Stelle, wo Danielle ihrer Kusine zur Hilfe geeilt war, denn ich erinnerte mich, wie ich in die Büsche zurückgeschreckt war, als der Schatten die Wand herunterkam.

Während Danielle erzählte, was geschehen war, saßen Bayard und Robert di Caela aufmerksam – und offensichtlich besorgt – auf den hochlehnigen Stühlen am Bett. Brithelm stand mit Sir Ramiro vom Schlund und Sir Ledyard an besagtem Fenster.

Alfrik trieb sich irgendwo herum.

Als die Geschichte zu Ende war, starrten die Männer einander lange und finster an. Auf Robert di Caelas Gesicht zeichneten sich widerstreitende Gefühle ab. Angst und Wut rasten über das edle Antlitz wie Skorpione über einen weißen Thron oder wie eine dunkle Wolke über die mondhelle Mauer einer Burg. Aber die Zeit für Gefühlswallungen war schnell vorbei. Er sprach als erster.

»Also ist meine Tochter Huma-weiß-wohin entführt worden. Dann haben wir nur ein einfaches Problem zu lösen: Wie kriegen wir sie wieder?«

Brithelm drehte sich vom Fenster weg. Bayard lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Zunächst sprach keiner von beiden, weil beide in der Gegenwart des Patriarchen von di Caela etwas nervös waren. Ich war um nichts besser, als ich sie aus meiner sicheren Position hinter dem Kaminsims beobachtete.

»Wäre es doch nie soweit gekommen«, fing Sir Robert an, »besonders in einer Zeit, wo wir so in Bedrängnis sind.

Vor einem knappen Monat erhielt ich die Nachricht, daß Bayard Blitzklinge an diesem Turnier teilnehmen würde. Ich nahm die Nachricht mit Freuden auf, weil ich sicher war, daß er durch die Prophezeiung mein Erbe der Wahl sein würde, und darüber war ich froh.

Und jetzt sind die Ansprüche dieses Erben von jemandem in Frage gestellt worden, dessen Anspruch auf diesen Besitz… beträchtlich ist. Er hat das Turnier gewonnen, bei dem es um meine Tochter Enid und alle Güter der di Caelas ging, doch dann stellt sich heraus, daß sein Name im Schicksal meiner Familie eine Rolle spielt, wenn auch eine schrecklichere, als ich wünschte oder mir auch nur vorzustellen vermag.«

Bayard setzte sich seufzend zurecht und wartete, daß Sir Robert zum Ende kam.

»Wenigstens ist dieses arme Mädchen nicht zu Schaden gekommen«, sagte ich und zeigte auf Danielle.

Sie lächelte erschöpft.

»Danke, Galen Pfadwächter«, hauchte sie. »Du bist sehr… ritterlich. Ich werde nicht vergessen«, fuhr Lady Danielle entwaffnend fort, »daß du in meiner schlimmen Lage als erster an meiner Seite warst.«