Er erläuterte die Situation höflich, aber kurz, wobei er sich über Valorus’ Hals beugte.
»Ich fürchte, Sir Robert, der Paß ist immer noch fünf harte Tagesritte entfernt. Übermorgen müßten wir über die Trotylhalde nach Estwilde gelangen, dann gabelt sich nach zwei Tagen die Straße. Der südliche Zweig geht zur Heimat der Götter und weiter nach Neraka, der östliche zum eigentlichen Paß.
Irgendwann erreichen wir dann die Ausläufer des Khalkist, und wenn wir auf der Straße bleiben, geht es fast einen Tag lang stetig bergauf, bis wir nach Chaktamir kommen, ganz hoch in das Land, das einst den Menschen von Neraka gehörte und heute Niemandsland ist.
Dort, Sir Robert, wird der Skorpion uns erwarten. Und dort wird auch Eure Tochter – hoffentlich unverletzt – auf uns warten.«
Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen und redeten ein paar Worte unter vier Augen.
Alfrik beugte sich im Sattel nach vorne, um zu hören, was sie sagten. Er verstand offenbar nichts, denn er versuchte, sich im Sattel wieder aufzurichten.
Doch auf halbem Weg in die Senkrechte überwältigte ihn das Gewicht seiner Rüstung, und er fiel mit dem Gesicht voran auf den felsigen Grund. Brithelm half meinem schamroten Bruder auf die Beine, während Alfrik Bayard mit Fragen bombardierte.
»Woher wißt Ihr das?«
»Ich war schon mal in Chaktamir. Vor zehn Jahren…«
»Er war also schon mal in Chaktamir!« rief Alfrik triumphierend aus. »Ihr habt ihn gehört, Sir Robert! Jetzt frage ich Euch: Warum, in Paladins Namen, sollen wir uns von jemandem führen lassen, der sich verdächtig gut an Orten auskennt, die der Skorpion besucht?«
Ramiro lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seinem leidenden Pferd zurück und lachte schallend.
»Junger Pfadwächter, ich war auch schon zweimal in Chaktamir. Vielleicht ist hier eine Verschwörung im Gange, die du übersehen hast!«
»Was für ein Problem hast du, Alfrik?« fragte Bayard ruhig, während er versonnen Valorus’ Mähne streichelte und von Matsch und losen Zweigen befreite.
»Schon seit wir das Schloß verlassen haben«, jammerte Alfrik, »heißt es nur ›Bayard, macht dies‹ und ›Bayard, jetzt führt Ihr uns‹! Wenn wir zu Enid kommen, wird sie natürlich Euch heiraten wollen, weil Ihr der einzige seid, den Sir Robert irgend etwas machen läßt.«
»Ist es das, was dich quält, Alfrik?« fragte Bayard langsam und drohend, so daß ich mich tief unter der Decke verkroch, die ich bekommen hatte, denn ich konnte am durchdringenden Blick seiner grauen Augen ablesen, daß Alfrik gerade ins Zentrum eines gewaltigen, mächtigen Sturms geraten war.
»Das also quält dich, nachdem wir gerade vierzehn Menschen hinter uns im Strudel verloren haben? Du wirst noch reichlich zu tun bekommen, Alfrik«, erklärte Bayard kalt. »Und wahrscheinlich früher, als dir lieb ist. Denn unser Feind beobachtet uns bereits.«
Bayard zeigte auf einen Platz etwas weiter vorne, wo ein kahler, absterbender Vallenholzbaum seine Zweige tief auf die grauen, regennassen Ebenen hängen ließ.
In seinen obersten Ästen hockte ein Rabe.
Zwei Tage später passierten wir die Trotylhalde. Das ist ein fast so steiniges, unwirtliches Land wie Ostküstenlund – eben, ja, aber eine Ebene, die schräg und steil aus den fruchtbaren Flußgebieten im Westen ansteigt, bis das Land um den Reisenden so zerfurcht und zerrissen erscheint wie das Gesicht des Mondes in den Astronomengläsern.
Durch diese verlassene Gegend aus dunklem Vulkangestein führte uns Bayard. Wir ritten jetzt langsamer, was einerseits am Gelände lag, andererseits am Unglück im Fluß, das viele Pferde und Maultiere verletzt und nervös gemacht hatte. Sie wieherten, bissen und traten den lieben, langen Tag hindurch.
Sie waren nicht die einzigen, die genervt und unzufrieden waren. Die Überquerung des Vingaard hatte jedem von uns zugesetzt.
Bayard und ich ritten voran. Der Ritter folgte einem kaum erkennbaren Pfad durch die glitzernden Felsen und rief gelegentlich Sir Robert, der uns folgte, etwas zu. Ramiro und Alfrik kamen nach Sir Robert. Alfrik hing unbequem im Sattel, als würde er jederzeit einen Pfeilhagel erwarten, und Sir Ramiro lachte immer weniger über die Feigheit und das Gezeter meines Bruders, als die Meilen sich hinzogen. Brithelm bildete die Nachhut, und zu Sir Roberts großem Mißfallen mußten wir immer wieder anhalten und Ramiro zurückschicken, um ihn zu holen. Einmal ertappte der große Ritter Brithelm beim Beobachten von Vögeln, ein anderes Mal hatte er gerade einen Stein hochgehoben, um das widerstandsfähige Insektenleben der Trotylhalde genauer zu untersuchen.
Beim dritten Mal fand Ramiro den benommenen Brithelm mitten auf der Straße sitzend vor, nachdem ihn ein tiefhängender Ast vom Pferd gefegt hatte, den er nicht bemerkt hatte, weil er ganz in seine Meditation versunken war.
Bayard half mir gelegentlich beim Führen der Packstute, aber häufiger suchte er zu Fuß zwischen den Felsen nach dem Pfad, der im vulkanischen Gelände wiederholt verloren ging.
Die einzigen Vögel vor uns und über uns waren Raubvögel und Aasfresser, die einzigen Bäume Kiefern, Fichten und hin und wieder ein verkrüppelter Vallenholzbaum, der seine Wurzeln nicht tief genug in den Felsboden treiben konnte und deshalb gebeugt und mickrig in der trostlosen Landschaft stand.
»Das Land der Falken«, murmelte Bayard einmal, als er Valorus geschickt um mich herum lenkte, um die Stute zurück auf den Weg zu treiben. »Hier oben wagen sich nur die mutigsten Vögel hin und töten dann einander, weil es einfach keine andere Beute gibt.«
»Klingt wie eine Kindheit im Hause Pfadwächter«, wagte ich zu bemerken. Er lachte rauh und ritt neben mich, als die Straße breiter wurde und uns ein kalter Südwind in die Gesichter fuhr.
»Oder in den Straßen von Palanthas«, gab er lächelnd zurück. Dann wurde er ernst.
»Du hast dich verändert, Galen, und zwar auf eine Art, die ich in der Wasserburg nie geahnt hätte, als du dich damals in meiner Gegenwart verteidigt hast. Du bist…«
»Nicht mehr so ein Wurm?«
Bayard wurde rot.
»Ich hätte gesagt, kooperativen«, meinte er vorsichtig, während seine Augen an der Straße hingen. »Abgesehen von deiner Größe und…«
Er sah mich an, lächelte und sah wieder weg.
»…und der absoluten Weigerung deines Schnurrbarts, so zu wachsen, wie du es dir wünschst, würde ich dich glatt für den ältesten Pfadwächter unter uns halten.
Was ich sagen will, Galen, ist, daß bei dir die Ritterschaft durch die Nähte guckt.«
Ich hatte keine Zeit, mich in dem Kompliment zu sonnen. Denn die Straße wurde steiniger und steiler, und die Falken vor uns drehten ab.
Am nächsten Mittag waren nicht nur die Falken vor uns. Zeitweise schimmerte der Osthorizont in dem strahlenden, metallischen Dunst auf, der durch Luftspiegelungen entsteht, bis es einem so vorkommt, als läge das Land vor einem unter Wasser.
Die Fata Morgana selbst war belebt. Merkwürdige Dinge liefen aufrecht durch die verschleierte Landschaft, ohne daß wir sie genau erkennen konnten – schließlich war es eine Luftspiegelung, was wir vor uns hatten. Aber sie waren dunkelrot bis braun, hatten keine Haare und rannten dauernd von einem sich auflösenden Felsen zum nächsten.
Manchmal verschwand die Fata Morgana, nur um Meilen später und viele Biegungen weiter östlich wieder aufzutauchen. Jedesmal war sie von dunklen, huschenden Gestalten bevölkert.
Irgend etwas in der Luft machte die Pferde unruhig.
»W-was ist das, Bayard?« fragte ich verunsichert.
»Ich weiß nicht genau. Aber ich weiß, daß wir bereits in Estwilde sind, und wenn der Skorpion weiß, daß wir kommen, könnten das seine Späher sein. Oder die erste Welle seiner Illusionen.«
Sir Robert griff in seinen Umhang, zog etwas heraus und warf es an den Wegrand. Sir Ramiro tat es ihm nach, und dabei hörte ich das leise Klirren von zerbrechendem Glas.
»Was ist los, Bayard?« fragte ich, doch mein Beschützer hatte nicht hingesehen. Sein Pferd hatte sich etwas vor meines geschoben, und seine Augen hingen unablässig an der Straße vor uns.