Wir frohlockten, bis wir seinen Blick sahen. Die Dumpfheit, die Ausdruckslosigkeit. Der Ausdruck der Toten, die nichts mehr kümmert, die sich an nichts mehr erinnern.
Mit der erhobenen Keule in seiner gelblichen, geschwollenen Hand trottete Agion langsam auf Bayard zu. Der hielt die Stellung, zog sein Schwert und erhob es.
Dann senkte er die Waffe, als der Zentaur näher kam.
»Bayard! Das ist nicht mehr Agion!« schrie ich.
Aber mein Beschützer stand reglos mit gesenktem Schwert da. Der Zentaur blieb vor ihm stehen und hob langsam und wie mechanisch die schwarze Keule.
Ich weiß nicht, wie ich an Bayards Seite kam. Brithelm sagte später, daß er mich noch nie so schnell erlebt hatte, und man vergesse nicht, daß er mich viele Male auf der Flucht durch die Wasserburg gesehen hat. Wie auch immer, als nächstes erinnerte ich mich daran, wie ich mit dem Gesicht zu Agion zwischen Bayard und dem toten Zentauren stand.
»Nein! Agion! Das ist Bayard! Und Galen!« schrie ich und wedelte mit den Armen.
Einen Moment lang wurden die dumpfen, ausdruckslosen Augen weicher. Aber nur einen Moment, dann kehrte die stählerne Härte des Todes wieder. Das Agion-Wesen hob die Keule, zischte und wollte uns beide in seine eigene düstere Welt holen.
Dieser Moment des Zögerns reichte aus. So zerschlagen Sir Robert sein mochte, er war nicht kampfunfähig – wie wir merkten, als er zwischen mich und den Zentauren sprang, um den Keulenschlag mit der flachen Klinge des alten di Caela Schwerts abzufangen. Dann riß er das Schwert zu einem kurzen, altehrwürdigen solamnischen Verteidigungsschlag hoch und durchbohrte damit den verwundeten Hals von Agion.
Alles sackte weg, und ich war im schwarzen Nichts. Falls ich geträumt habe, während ich bewußtlos mitten im Chaktamir Paß lag, erinnere ich mich an nichts.
Ich weiß nur noch, wie ich aufwachte, als Bayard mich ins Licht, in Kälte und Schmerz und in eine Traurigkeit wachrüttelte, die ich zunächst nicht begriff. Eine Traurigkeit, die ich erst einordnen konnte, als ich die Körper der Zentauren sah und mich erinnerte.
»Wie du schon sagtest«, tröstete Bayard, während er mir auf die Beine half, »es war nicht mehr Agion.«
»Und doch… einen Augenblick lang dachte ich, unser alter Freund hätte trotz Tod und allem Zauber des Skorpions kurz innegehalten«, murmelte ich.
»Vielleicht hat er das auch, Junge«, erwiderte Sir Robert leise. »Das sollte uns Mut machen, denn es beweist, daß die Macht des Skorpions zu brechen ist.«
»Daß manche Dinge«, ergänzte Brithelm leise, »stärker sind als der Tod.«
Wir schwiegen einen Augenblick.
Sir Robert zeigte auf das offene Tor.
Immer zu zweit nebeneinander marschierten wir durch den drohenden Bogen.
Durch einen Vorhang aus Schneetreiben und dickem Nebel tauchten sie auf – die Schatten geduckter, schleppend gehender Männer, die sich fast wie Affen bewegten. Obwohl ihre Gestalten hinter uns und vor uns kaum zu sehen waren, erkannte ich, daß sie Waffen trugen: die schlanken Schatten nerakanischer Krummschwerter lagen in ihren schattenhaften Händen. Die kalte Luft um uns summte von ihrem Stöhnen und ihren unmenschlichen Schreien.
Es war, als würde jemand eine Armee zusammenrufen.
Bayard zog sein Schwert und wollte sich mitten in die Schatten stürzen, doch Brithelm ergriff ihn am Arm.
»Sir Bayard, Eure Pflicht liegt im Schloß – eine Aufgabe, die nur Ihr vollbringen könnt. Denn wer weiß, ob Lady Enid nicht Schrecken ausgesetzt ist, die viel schlimmer sind als alles, was wir hier vor uns haben.«
»A-aber…«, fing Bayard an.
»Ins Schloß, Sir, und mögen die Götter Euren Weg beflügeln.« Brithelm lächelte heiter und zuversichtlich. Ein Pfeil kam aus dem Nebel und fiel neben ihm auf den Steinboden.
»Bei Paladin, du wirst nicht allein einer Armee gegenüber stehen, Junge!« brüllte Sir Ramiro. »Gebt mir jederzeit einen bewaffneten Feind statt diesem wolkigen Hokuspokus, der in dem Spiegelkabinett da steckt. Her damit, tot oder lebendig! Ich decke dir den Rücken, Brithelm!«
Ramiro zog sein Schwert, stieß mich zu Bayard und stellte sich neben meinen gelassenen Klerikerbruder. Bayard zog mich am Arm auf die Zugbrücke, obwohl ich mich wehrte. Alfrik und Sir Robert folgten dicht hinter uns.
Als wir über die Brücke auf das Tor zuliefen, das sich dunkel vor uns erhob, beugte sich Bayard zu mir und flüsterte: »Keine Sorge, Sohn.«
Wir blickten zu meinem Bruder zurück, dem Mann des Friedens, der sich zwischen nebelverhangenen Steinen zum Kampf rüstete. Neben ihm stand dieser fröhliche Riese Ramiro, der seinen gewaltigen Schild über die beiden hielt, um sie vor den Pfeilen zu schützen.
»Ich bin sicher, daß wir sie beide wiedersehen, Galen. Denen passiert einfach nichts.«
Plötzlich kam ein rotes Licht aus Brithelms Hand, das sich in die schattenhaften Gestalten vor ihm grub. Ein lauter Schrei gellte durch den Nebel, so daß die Armee wie angewurzelt stehenblieb und etwas vor unserer kleinen Nachhut zurückwich.
»Verdammt!« hörte ich Ramiro noch grollen, bevor ich seine Stimme im Nebel und durch die Schreie der Schattensoldaten nicht mehr ausmachen konnte. »Wohin man sieht, überall diese Zaubertricks! Wie soll ein Mann da bloß vernünftige Gesellschaft finden?« Und er lachte herzlich und schwenkte seinen Schild vor den murmelnden Soldaten.
Von da an gab es nicht mehr viel zu lachen. Wir kamen zuerst durch den hohen Bogen des Burgtors. Der Hof selbst erschien halb zusammengeträumt und halb aus Erinnerungen an Kastell di Caela zusammengesetzt. Er war anscheinend nur mit einem Auge auf die Geschosse erbaut. Die Gebäude glichen denen von Kastell di Caela in Gestalt und Größe und standen an denselben Stellen im Hof.
Jedenfalls so weit ich sehen konnte. Denn das jenseitige Ende des Hofes, die Türme, die Geschäfte, die Ställe – sogar die Zinnen – waren hinter dem Nebel oder lösten sich im Nebel auf. Manchmal war eine Wand da, dann anscheinend nicht mehr, als wäre sie je nach Wind oder Schneestärke fest oder nicht.
Ich war von dem unheimlichen Gefühl erfüllt, daß der Erbauer nur eine Kulisse errichtet hatte. Der Bergfried, die Türme und die anderen Gebäude wirkten hohl, als wären sie allein für uns Besucher aufgestellt.
Ob nun aus dem Nebel oder aus einem schwärzeren Grund, jedenfalls schien der Boden vor uns aufzutauchen, während wir zum Bergfried ritten. Dort stiegen wir sofort ab und ließen die Pferde frei im Hof herumlaufen. Sie würden auf jeden Fall sicher sein und vielleicht brauchten wir sie von jetzt an nicht mehr.
Hinter uns drangen Schreie aus dem Nebel. Einen Augenblick lang hielt Bayard inne, drehte sich um und wollte schon zurücklaufen. Doch dann murmelte er »Enid«, nahm meinen Arm und hob mich regelrecht über den Nebel, als die Pferde davongaloppierten. Gemeinsam machten wir ein paar zaghafte, erste Schritte, um dann schneller zu laufen, damit wir Sir Robert und Alfrik erreichen konnten, die schon vorgerannt waren. An der Tür zur Burg holten wir sie ein.
Im Gegensatz zum Tor war diese verschlossen. Sir Robert hatte es einmal, zweimal probiert und lief jetzt kochend auf und ab, während Alfrik Vaters Schwert zu dem idiotischen Versuch benutzte, die Tür aufzubekommen.
»Aus dem Weg!« brüllte Bayard, und Alfrik gehorchte mit überraschender Gewandtheit. Er war es gewohnt, allen eiligst aus dem Weg zu gehen. Bayard nahm vier Schritte Anlauf und versetzte der Tür einen lauten Tritt.
Die Tür erzitterte, doch sie ging weder auf, noch brach sie aus den Angeln. Bayard prallte von dem dicken Eichenholz ab und schlug hin, um benommen und atemlos auf dem Boden liegen zu bleiben. Hinter uns und um uns herum schien der Hof zum Leben zu erwachen. Irgendwo im Nebel hörte ich schwerfällige Bewegungen, Leder knirschte, Metall klirrte. Etwas Großes regte sich, atmete und bewegte sich allmählich in unsere Richtung.