Langsam und überaus vorsichtig versuchte ich, mich an dem Vorhang hoch über die Brüstung zu ziehen, wobei ich zu Gilean und Mishakal und allen Göttern um einen starken Stoff in meinen Händen betete, um gute Schreinerarbeit an der Brüstung und keine Illusionen mehr vor mir. Der mechanische Vogel draußen im Gang keckerte wieder.
Ich seufzte und flüsterte mir zu: »Also hoch mit dir und finde deinen Tunnel nach draußen, Wiesel.«
Dann sah ich den Riesenskorpion mit seinen glänzend schwarzen Scheren und dem erhobenen Stachelschwanz, der langsam am Vorhang herunterkletterte und sich auf dem Weg zu meinen Händen an Saum und Stickerei festklammerte.
Aus solchem Stoff sind unsere schlimmsten Alpträume gemacht. Ich griff nach der Brüstung, doch meine Hand glitt einfach hindurch, als wäre sie aus Rauch.
Es gab nichts Festes, das als Rettungsleine dienen konnte. Ich ließ mich so weit wie möglich am Vorhang herunter, als würde ich ein Seil hinabklettern. Dann dachte ich an das brodelnde Knäuel von Tierchen unter mir und blieb, wo ich war. Ich wagte nicht, noch weiter runterzugehen, weil ich befürchtete, der Vorhang würde zu Ende sein.
Der Riesenskorpion kam weiter auf mich zu. Er hatte den schwarzen Schwanz erhoben, und seine dünnen Beine tanzten über den weichen Stoff.
»Hau ab!« zischte ich. Das Biest blieb stehen, schwenkte den Schwanz in der Luft wie ein schwarzes Blatt, das Feuchtigkeit oder Sonnenschein auffangen sollte, und hüpfte dann drohend in meine Richtung, bevor es einen knappen Meter vor meinen Händen ironisch auf einer Goldtroddel halt machte.
»Was für ein Held!« höhnte der Skorpion voller Ironie. »Ein Tier, das nicht einmal ein Zehntel so groß ist wie du, und du scheust davor zurück, als ob es… giftig wäre?« Sein Gelächter schwoll zu einem durchdringenden Geheul an. Die Skorpione unter mir wuselten noch aufgeregter durcheinander, und Enid hielt sich die Ohren zu.
»Du bist selbst nicht gerade für Fairneß im Kampf berühmt, Benedikt!« schimpfte Enid wütend. Sie sagte noch mehr, aber ihre Worte gingen in seinem Lachen unter.
Als das Lachen endlich nachließ, sah Benedikt zu mir hoch. Mit einer seltsamen, verrückten Zärtlichkeit lächelte er, doch ich konnte sehen, wie seine glühenden Augen immer tiefer in ihre Höhlen sanken und sein Schädel unter der blassen, gelblichen Haut Kontur annahm.
»Du hast mir mal gute Dienste geleistet, nicht wahr, Galen Pfadwächter?«
Das Untier über mir blieb stehen, als sein Meister sprach. »Als Belohnung für deine Dienste, kleines Wiesel, solltest du länger leben als alle deine Freunde.«
Enid warf mir einen wütenden Blick zu, weil sie sich zweifellos an die Geschichten von meinem Verrat erinnerte.
Ich sah sie voller Reue an und zuckte mit den Achseln, so weit das möglich war, während ich hier am Vorhang hing.
Ihr Zorn legte sich. Hilflos starrten wir einander an. Hilflos baumelte ich da. Über mir und unter mir erwarteten die giftigen Tiere ihre Befehle. Ich hatte noch einen Aufschub bekommen.
Durch die Gänge hörte ich entfernt etwas an die Tür klopfen – die Tür, zu der ich hatte hinrennen und sie aufmachen sollen. Der Skorpion legte grinsend die Hand ans Ohr.
»Wir haben Besuch, Liebling! Bleib nur sitzen, ich geh schon!« rief er, um gleich wieder in Lachen auszubrechen. »Das ist sicher mein Schwiegervater, wenn ich mich nicht irre.«
Mit glühenden Augen drehte er sich zu mir um.
»Und ich irre mich nie. Denn trotz deiner Wortklaubereien und deiner langen Nächte mit Poesie und Geschichte und solamnischen Überlieferungen bin ich es, der die Bedeutung der Prophezeiung enträtselt hat, nicht Bayard oder Sir Robert, der sie so verstand wie sein Vater und dessen Vater vor ihm. Ich bilde mir gerne ein, daß eine gewisse… Bardenseele in mir wohnt«, sann er nach und lehnte sich demonstrativ in seinem Thron zurück.
»Wenn ja, Onkel Benedikt, dann wette ich, daß sie einsam ist«, gab Enid zurück.
»Sei still, Kind«, erwiderte Benedikt leise, fast beruhigend. »Denn jetzt beginnt deine… Hochzeitsnacht.«
Aus den Falten seines Umhangs zog er einen Dolch, der im gelblichen Licht des Saals blitzte, als er ihn sorgsam auf die Armlehne seines Throns legte. Genau in diesem Moment erbebte die Tür zum Großen Saal und brach aus den Angeln.
In der Tür standen Bayard und Sir Robert mit gezückten Schwertern. Sir Roberts Linke hielt Alfrik an den Haaren fest. Auf diese Weise hatte er meinen widerstrebenden Bruder hierher gebracht. Alfrik schnaufte und heulte.
»Willkommen«, flötete der Skorpion geheimnisvoll. »Ich habe Euch erwartet, Bayard Blitzklinge. Und Euch… Sir Robert.
Wir haben Zeit – nicht viel Zeit, aber genug –, um unseren vierhundert Jahre alten Streit endlich auszutragen. Aber laßt uns zuerst eine frischere Wunde heilen, eine kleine Auseinandersetzung von vor knapp dreißig Jahren.«
Mit den Handflächen nach oben streckte er die Hände aus und hob sie langsam über den Kopf. An den Fingern der linken Hand hing glitzernd das Pendel.
»Laßt meine Freunde ihren Kampf wiederaufnehmen… auch wenn Euer ach-so-mächtiger Orden glaubt, er hätte allen Kämpfen ein Ende gemacht«, erklärte er gleichmütig. »Laßt Generationen vom Gras zurückkehren, ›auf daß der Fluch nun endlich weicht‹.«
Die Skorpione unter mir stoben auseinander, als der Boden des Saals bebte und knackte.
Als die Aufmerksamkeit seines Herrn auf anderes gelenkt wurde, nahm mein Feind von oben seinen krabbelnden Abstieg wieder auf.
»Bleib genau, wo du bist!« drohte ich mit möglichst einschüchternder Stimme. Dann klappte ich den Mund zu, weil mir einfiel, daß das Tier vielleicht dem Klang meiner Stimme folgte. Ich griff an meinen Gürtel zu dem Messer, das da hing…
Nicht hing.
Mir fiel das Fensterbrett ein, durch das ich in das Schloß eingedrungen war, und wie das Eisen im Licht des roten Mondes geglitzert hatte. Mein Dolch lag sehr praktisch drei Gänge weiter, denn ich hatte ihn auf einem Fensterbrett außer Reichweite vergessen.
Vergeblich suchte ich in meinen Taschen nach etwas Schwerem oder Hartem. Schließlich fand meine verzweifelte Hand etwas Rauhes, Dickes, Ledriges.
»Die Handschuhe!« zischte ich, und der Skorpion kroch am Vorhang herunter, bis er nur noch einen Fuß vor meiner anderen Hand war.
Mit Hilfe meines Mundes zog ich in einem gewagten Manöver, das ich unter anderen Umständen als zu akrobatisch, verworfen hätte, einen Handschuh an. Geschicklichkeit war immer mein größtes Talent gewesen, und diesmal, am Ende der Vorhänge des Skorpions, mußte ich das voll ausspielen.
Der Händler, der mir die Handschuhe verkauft hatte, hatte mit ihrer Robustheit geprahlt und behauptet, daß sie »tatsächlich ein Messer abhalten könnten, wenn man sie dazu benutzt«.
Als der Skorpion knapp sechs Fingerbreit vor meiner Hand den Stoff prüfte und sein Bein sich auf die grobe Stickerei senkte, streckte ich die Hand aus, ergriff das Tier mit der Hand im Handschuh und quetschte sie so fest wie möglich zu.
Ich hörte, wie sein Panzer knackte, und fühlte, wie etwas in meiner gepolsterten Handfläche brach. Der tödliche Schwanz fand seinen Weg zwischen meinen Fingern hindurch, bog sich und stach wieder und wieder in das dicke, kräftige Leder.
Dieses eine Mal hatte ein Händler nicht gelogen.
Ich schmiß die Überreste des Tieres fort und sah die Teile auf den Saalboden fallen.
Der nun um meine Freunde herum aufbrach.
Durch den Nebel, die Felsen und den Boden erhob sich ein Bataillon, das durch Stein und Fliesen brach. Manche Soldaten trugen Minotaurenhelme, heute und damals das Zeichen der Männer aus Neraka. Alle waren mit den gefürchteten Scimitaren und dem Halbmondschild des Westheeres ausgerüstet, dem Flügel der Armee, der vor dreißig Jahren Enrik Sturmfeste – und meinem Vater – in der Schlacht von Chaktamir zum Opfer gefallen war.
Während der Skorpion von seinem Platz im Saal aus gelassen zuschaute, quollen seine Soldaten aus dem Boden, stellten sich auf und drangen auf Bayard und Robert und Alfrik ein. Moos und Erde und Dreck rieselten ihnen aus den Haaren, und durch das gelbe, verwesende Fleisch sah man das bloße Weiß ihrer Knochen. Der Gestank glich dem eines längst aufgegebenen Schlachthauses.