Vater starrte seinem Erstgeborenen und Erben fest in die Augen. »Wenn du nur wüßtest«, bemerkte er voller Trauer, »was für eine schwere Enttäuschung du mir bereitet hast, Alfrik, dann wäre dieses Wissen Strafe genug.«
»Waaaa«, antwortete mein Bruder. Die Bulldogge unter Brithelms Stuhl betrachtete ihn neugierig.
»Aber du hast nicht mehr Ahnung von Ehre, von Verantwortung und von Buße als… als…«, Vaters Augen schweiften ärgerlich durch den Raum, »als diese Bulldogge da, die sich unter Brithelm versteckt.« Er zeigte auf die Bulldogge, und die zog den Schwanz ein.
»Waaaa«, blökte Alfrik, und da konnte ich mich nicht mehr halten und begann zu kichern. Auf einmal schwenkte der wütende Blick direkt in meine Richtung.
Jetzt konnte ich mir vorstellen, wie die Männer von Neraka sich vorgekommen waren, als mein Vater noch jung war und Wege beschützte.
»Und da ich einsehe, daß mein Jüngster, dein Bruder Galen, sich nicht so verhält, daß er über jeden Verdacht erhaben wäre, soll er sich in dieser Haftzeit zu dir gesellen, bis alles aufgedeckt ist und wir erkennen, wer die Schuld trägt.«
»Aber, Vater!« Ich begann zu betteln. Ein panischer Seitenblick auf Alfrik zeigte mir, wie sich langsam ein höhnisches Grinsen über seine Wut und seine Angst legte. Wir würden allein im Kerker sein, allein und außer Hörweite. Und Alfrik hatte schon wieder eine neue Schmarre, für die er mir die Schuld geben konnte. Ich konnte nur noch stammeln.
»Aber, Vater! A-aber, Vater!«
Ein einziges Mal sprachlos. Nicht besser als Alfrik.
Der Kerker stank nach Schimmel und Eiche und saurem Wein. Ich kauerte mich in eine dunkle Ecke. Dann schob ich mich zur Mitte der jenseitigen Wand, immer noch so weit wie möglich von Alfrik entfernt, ohne mir gleich einen Weg ins Freie zu buddeln – was natürlich als erstes auf der Tagesordnung stehen würde, wenn ich die brüderlichen Aufmerksamkeiten überleben würde, die mir ganz sicher bevorstanden.
Vater stand mit Brithelm und Gileandos in der Tür. Brithelm hielt eine Lampe, die die Gruppe in schwaches, flackerndes Licht tauchte. Gileandos war kaum zu sehen, weil er verständlicherweise vor Flammen zurückscheute, seit er vor einem Monat in der letzten gemeinsamen Schandtat von Alfrik und mir zum letztenmal gebrannt hatte.
Man konnte kaum das Licht auf seinen Verbänden glimmen sehen.
»Zweimal am Tag bekommt ihr zu essen«, verkündete Vater. »Wir wollen streng sein, aber nicht unmenschlich. Jeden Morgen dürft ihr im Hof Spazierengehen, um frische Luft zu schnappen. Das ist eine Lektion«, fuhr er fort. »Eine Lektion für uns alle. Auch wenn ich verflucht sein will, wenn ich herausfinde, warum.«
Er zog sich zurück. Jetzt konnte ich nur noch Brithelm sehen, der die Lampe hielt, mich besorgt und mitleidig ansah und sich zweifellos wünschte, er könnte meinen Platz einnehmen.
Aus der Dunkelheit hörte ich Vater sagen: »Ich nehme an, ihr seid euch klar darüber, wie enttäuscht ich von euch beiden bin.« Dann schloß sich die Tür, und um uns herum herrschte absolute Finsterkeit.
Und ich hörte, wie Alfrik sich knurrend in meine Richtung aufmachte.
3
Obwohl ich Poesie immer gehaßt habe, weiß ich noch, daß ich mal Barde werden wollte. Ich hatte nämlich ihre nächtelangen Vorstellungen in der Wasserburg gesehen, so daß mir ihr Geschäft als eine ganz einträgliche Sache vorkam. Man bekommt zu essen, dann erzählt man eine Geschichte, die keiner als Lüge bloßstellen darf, so daß man sie ausschmücken kann, wie man will. Dann wird man noch für das Lügen bezahlt. Das war ein Leben, an das ich mich gewöhnen könnte.
Diese Illusion verlor ich jedoch schon früh. Ich erinnere mich sogar noch genau daran, wie die Illusion an einem Abend vor acht Jahren über den Burggraben flog und verschwand.
Als Quivalen Soth, der berühmteste Elfenbarde, zwei Wochen nach meinem neunten Geburtstag in der Wasserburg vor meinem Vater sang, reichte mir das, um der Poesie für immer abzuschwören.
Die Nacht des Barden war die Nacht, wo die Nachstellungen begannen. Unter der Aufsicht von Gileandos putzten wir Jungen den großen Saal der Wasserburg, während Vater sich auf den Empfang des Ehrengastes vorbereitete. Weil der Saal für den Künstler wirklich so gut wie möglich aussehen sollte, war Gileandos ganz aufgelöst und trat sogar nach ein paar Bediensteten, als er feststellte, daß im Kamin noch die alte Asche lag. Mit dem Besen in der Hand machte ich mich über die Asche her, während zwei staubige Jungen aus dem Saal rannten. Beim Schrei eines Stallknechts, dem diese wichtige Aufgabe aufgetragen worden war, drehte ich mich um. Er lag krumm vor Schmerzen unter dem Tisch und erwartete einen neuerlichen Tritt von Alfrik, der lächelnd über ihm stand.
»Nicht so heftig, Alfrik!« rief Gileandos, als der alte Mann vor Schmerz ohnmächtig wurde und dabei noch das Tischtuch herunterriß.
»Hab mich hinreißen lassen«, grummelte Alfrik. Dann hockte er sich hin, wischte seinen Stiefel ab und packte den Mann an den Haaren. Während er ihn aus dem Saal schleppte, rief er lachend über die Schulter: »Ein Liebhaber der Poesie, ganz bestimmt bin ich das!«
Schon vor acht Jahren hätte Alfrik bereitwillig einem Bauerntölpel mit Cello den Tisch gedeckt, wenn sich dadurch Gelegenheit bot, das Personal zu drangsalieren.
Quivalen Soth war kein Bauerntrampel, sondern sah eigentlich aus wie jeder andere Elf. Seine Zeit als Barde hatte ihn nicht reicher gemacht, er trug die grünen Kleider eines Jägers, das lange Haar war leicht silbrig. Dennoch trat er feierlich und beredt auf, und schließlich war er eine wirkliche Berühmtheit. Er war der Autor von Humas Lied, das Gileandos mir im letzten, trüben Winter genau hier im großen Saal eingebleut hatte, bevor mein erstes Rachefeuer seinen Bart und das halbe Gesicht darunter versengt hatte, woraufhin unser Studium der Klassiker sich etwas abkürzte.
Vater und der Elf tauschten beim Abendessen Förmlichkeiten aus, und die unvermeidliche Hundemeute kroch in den Saal, weil sie von der Wärme des Feuers und dem Geruch des Rehbratens angelockt wurde.
Alfrik grinste mich vom anderen Ende der Tafel höhnisch an. Ich machte kurz das unanständige Zeichen in seine Richtung, das ich erst am gleichen Morgen von einem Stallburschen gelernt hatte. Wütend starrte er in seinen Weinkelch, denn es war das erste Bankett für uns, seit er dreizehn geworden war, und er durfte zum erstenmal etwas Stärkeres trinken.
Der Elf erhob sich, um uns alle zu begrüßen.
»Zur Unterhaltung habe ich für den heutigen Abend Mantis von der Rose ausgewählt«, verriet Quivalen Soth. Wahrscheinlich hatte ihm irgendein geheimer bardischer Nachrichtendienst Vaters Lieblingslied verraten, denn der alte Mann lächelte, hob sein Glas und war sich offensichtlich überhaupt nicht bewußt, daß er das bekam, was Gileandos als Quivalen Soths »frühe, zweitklassige Werke« abtat.
Nach dem Essen begann die Vorstellung. Da mich die abstrakte, religiöse Geschichte über freien Willen und Rosen am Himmel augenblicklich langweilte, beobachtete ich Alfrik, der in seinem Stuhl so tief zusammengesunken war, wie es seine Rüstung zuließ, und seine Messerklinge am Rücken eines schnarchenden Hundes abwischte, dessen Pfote glücklich zuckte, weil er sich wohl vorstellte, daß er gekrault und getätschelt wurde. Brithelm, mein mittlerer Bruder, stand aufrecht wie eine verrückte, rote Vogelscheuche da. Er war ein Meister in der Kunst, nur dem Anschein nach zuzuhören. Wahrscheinlich meditierte er.
Vater hingegen war der gute Gastgeber, der selbst den lächerlichsten Teilen der Geschichte lauschte.
Nur Vater zollte dem Elf letztlich den Respekt, nach dem seine Berühmtheit zu schreien schien. Als der Barde meinem Vater hinterher für das Dutzend Silberstücke dankte, seine Harfe über die Schulter schwang und den Saal verließ, als der rote Mond gerade im Westen unterging und der Osthimmel sich zu röten begann, kam mir ein Gedanke. Wenn Quivalen so überaus erfolgreich war, warum spielte er dann in den entlegensten Dörfern von Solamnia?