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Dann rief sie auf seinem Privatanschluss an, obwohl die Nummer nicht mehr im Telefonbuch stand, seit Philipp zum ersten Mal verschwunden war. Meiler hatte in der Presse gelesen, dass deutsche Behörden Datensätze verkauften, aber das war ihm immer wie eine Übertreibung von Bürgerrechtshysterikern erschienen. Linda Franzen traute er zu, die Handynummer des Papstes herauszufinden, wenn sie die brauchte.

Am Telefon klang ihre Stimme nach einer Frau, die wusste, wie man Charme für eigene Zwecke einsetzt. Meiler war sicher, dass sie überdurchschnittlich gut aussah. Man musste kein Psychologe sein, um Franzens starken Willen hinter dem freundlichen Singsang zu spüren. Obwohl sie zweifellos mit einem festen Freund zusammenlebte, sagte sie nicht, »wir wünschen uns« oder »unser Anliegen wäre«. Sie sagte »ich plane«, »ich brauche«, »ich muss«.

Fragte man Meiler nach dem Geheimnis seines Erfolgs, antwortete er mit zwei Vokabeln: Konsequenz und Konsistenz. Er besaß Prinzipien, hasste Zeitverschwendung und mochte keine Spielchen. Weshalb er auf Linda Franzens Charmeoffensive mit der unverblümten Wahrheit reagierte.

Sein neuerworbener Besitz, erklärte er, umfasse eine Fläche von 250 Hektar. Diese hingen nicht zusammen, sondern verteilten sich in unregelmäßigen Parzellen über den halben Landkreis. Es handele sich um Felder, Wiesen und Wälder; es gebe die unterschiedlichsten Nutzungsarten von Ackerbau bis Streichelzoo, und das bei meist unklaren Grenzverläufen. Mit dem Zuschlag auf der Auktion habe er, Konrad Meiler, eine ganze Armada von neuen Nachbarn erworben, von denen sie, Linda Franzen, nur eine sei. Eins müsse sie sich klarmachen, um die vollständig fehlende Erfolgsaussicht ihrer Anrufe einschätzen zu können: Es sei nicht nur praktisch unmöglich, sich um die Partikularinteressen jedes einzelnen neuen Nachbarn zu kümmern, er habe auch keine Lust dazu und plane nicht einmal, es zu versuchen. Auch nicht ausnahmsweise, auch nicht in Franzens Fall. Das Land habe er aus einem einzigen Grund erworben. Weil er es konnte.

Meiler kam ins Reden. Er merkte es, während es passierte, und wusste, dass Linda Franzen es genau darauf anlegte. Aufhören konnte er trotzdem nicht. Seit Mizzie nur noch sporadisch im gemeinsamen Haus in Ingolstadt auftauchte, gab es niemanden mehr, der ihm zuhörte. Seine älteren Söhne Friedrich und Johannes lebten seit bald fünfzehn Jahren nicht mehr zu Hause, der eine war Anwalt in Würzburg, der andere Urologe in Fürth, und was der Jüngste, Philipp, gerade machte, wollte Meiler lieber gar nicht wissen. Mit Linda Franzen hatte das alles nichts zu tun, aber sie verstand es, ihn mit Fragen nach seiner Geschäftsphilosophie zum Reden zu bringen. Er erzählte ihr, dass er Result International vor bald vierzig Jahren gegründet hatte, zu einer Zeit, als Managementberatung noch als amerikanisches Dienstleistungsmodell galt. Seitdem steuerte er das Firmenschiff durch die Untiefen der Wirtschaftsgeschichte, deutsche Einheit, 9/11, Finanzkrise. Konsequenz und Konsistenz. Er hatte darauf geachtet, die Firma trotz frühem Erfolg nicht zu groß werden zu lassen. Er arbeitete nur für Menschen, deren Witze er verstand. Er hatte den Firmensitz in Ingolstadt belassen, obwohl es ihm und seinen Angestellten in den vergangenen Jahrzehnten viel Zeit gespart hätte, in der Nähe des Frankfurter Flughafens zu wohnen. Trotz aller Zurückhaltung wäre er nicht dorthin gekommen, wo er heute stand, wenn er es nicht verstünde, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen.

Irgendwann hatte Gottfried Wanka, einer von Meilers langjährigen Kunden, beim Abendessen erzählt, dass ein Quadratmeter Land im Umkreis von Berlin nicht mehr kostete als ein Vitalbrötchen beim Bäcker. Weil Meiler ungläubig reagierte, schlug Wanka vor, ihn zu einer Versteigerung mitzunehmen. Meiler sagte zu, mehr aus Faszination für den großen Schlussverkauf von Grundbesitz als aus dem konkreten Wunsch, etwas zu erwerben.

Da Result International nie in der Politikberatung tätig gewesen war, erschien ihm der Vorgang, den Wanka beschrieb, einigermaßen befremdlich. Seit die amerikanische Immobilienkrise die Staatshaushalte unter Druck setzte und sich die Erkenntnis ausbreitete, dass Überschuldung auch für Volkswirtschaften zum Problem werden konnte, machte das Finanzministerium, was jeder Privatmensch auch tun würde: Es verscheuerte zwar nicht das Tafelsilber, wohl aber den großflächigen Ramsch, der bei der Wiedervereinigung in Form von ehemaligem Volkseigentum in das Eigentum der Bundesrepublik gelangt war. Bei der Auktion, die Wanka und Meiler besuchten, brachte die Nachfolgeorganisation der Treuhand 250 Hektar unter den Hammer. Weil der Ausgangspreis geradezu lächerlich war, bot Konrad Meiler mit, und als er einmal damit angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Als die Grenze von zwei Millionen Euro überschritten war, hielt nur noch ein weiterer Bieter dagegen.

Bei 2,3 Millionen stand ein Mann auf, der bislang nur als Zuschauer an der Versteigerung teilgenommen hatte. Man drehte sich nach ihm um; auch der Auktionator hielt inne in Erwartung eines überraschenden Quereinsteigergebots. Wie ein Millionär sah der Kerl allerdings nicht aus. Er mochte Anfang siebzig sein, ein ehemals gut aussehender Mann im Zustand fortschreitender Verwahrlosung. Der Bart war ungepflegt, das Haar strähnig und zu lang. Er hatte seine Windjacke nicht abgelegt, obwohl es ohnehin zu warm war im Raum. Neben seinem Stuhl stand ein großer Rucksack, an dem eine Krücke lehnte. Der Mann streckte einen Arm aus, zeigte auf Meiler und sagte »verdammte Heuschrecke«. Dann setzte er sich wieder hin.

Konrad Meiler gab sein nächstes Gebot ab. Bei 2,5 Millionen gehörte das Land ihm. Er fühlte sich nicht als Sieger. Die Vorstellung, dass da draußen im Mittagslicht Waldstücke lagen, Weizenfelder, Kuhweiden, Obstwiesen und Brachflächen, die nun mit einem Schlag ihm gehörten, hatte etwas Absurdes. Der Garten seiner Villa am Rand von Ingolstadt war ihm immer groß vorgekommen. Er umfasste knapp 2000 Quadratmeter. Meiler versuchte zu schätzen, wie lange er brauchen würde, um seinen neuen Besitz zu Fuß zu umrunden, und stellte fest, dass das eine unmögliche Rechnung war.

Ein gutes Jahr später erzählte er diese Geschichte einer völlig unbekannten Frau am Telefon, obwohl ihm klar war, dass ihr seine Redseligkeit falsche Hoffnungen machen würde. Sie würde ihn für einen einsamen Mann halten und glauben, dass er ihr das Stück Land, das sie so dringend brauchte, irgendwann aus Sympathie überlassen würde. Bestimmt trank Franzen in diesem Augenblick das erste Glas Sekt auf ihren bevorstehenden Erfolg. Zu allem Überfluss hatte er irgendwann zugesagt, sie zu treffen. Bei einem ihrer Telefonate hatte sie ihm das Datum seiner nächsten Geschäftsreise nach Berlin entlockt. Ehe er es sich versah, hatte er versprochen, bei dieser Gelegenheit nach Unterleuten zu kommen. Nicht um über den Verkauf von vier Hektar Land zu verhandeln. Sondern weil es ihn reizte, seine neuen Besitztümer einmal mit eigenen Augen zu sehen.

»Ist mir egal, warum Sie kommen«, sagte Franzen. »Schauen Sie einfach vorbei.«

Immerhin wusste sie genau, woran sie bei ihm war. Meiler entspannte sich und schaltete das Radio an. Ein Mann sang mit sonorer Stimme zu Klavierbegleitung.

»Brandenburg / Wenn man Bisamratten im Freibad sieht / dann ist man im Naturschutzgebiet / Mark Brandenburg.«

Meiler lachte laut. Als das Navi ihn anwies, die Bundesstraße zu verlassen und einer schmalen Allee zu folgen, drosselte er die Geschwindigkeit auf 30 Stundenkilometer, obwohl 60 erlaubt waren. Der Asphalt lag in Wellen wie die Oberfläche eines erstarrten Flusses und war an vielen Stellen aufgerissen, so dass riesige Schlaglöcher zum Slalom zwangen. Der Roadster lag tief auf der Straße, seine Schnauze hob und senkte sich wie die eines Motorboots bei Windstärke sieben.