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Diesmal, dachte Elena mit Hinblick auf Hilde und Gombrowski, diesmal seid ihr zu weit gegangen, und sie spürte den bittersüßen Geschmack von Schadenfreude im Mund.

Sie lag im Fenster wie Gott, der das Böse richtet, statt es zu verhindern.

Nach einer weiteren halben Stunde hatten die Tierfänger den letzten Katzenkorb im Wagen verstaut; von Hilde war in der Zwischenzeit nichts mehr zu sehen und zu hören gewesen. Statt sogleich in die Autos zu steigen und loszufahren, lehnten sich die Tierfänger ans Gartentor und rauchten eine Zigarette. Das Handy des Jüngeren klingelte. Gleich darauf traf die Ambulanz ein.

Obwohl das Martinshorn nicht eingeschaltet war, standen kaum eine Minute später der ewig grinsende Björn sowie Silke und Sabine aus dem Märkischen Landmann auf der Straße und sahen zu, wie Hilde, winzig klein zwischen zwei Sanitätern, aus dem Haus geführt wurde. Niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Der Sanitäter redete auf Hilde ein, die keine Reaktion mehr zeigte. Ihr Widerstand war zusammengebrochen und hatte die ganze Person mit sich gerissen. Mit der verlaufenen Schminke sah sie aus wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm. Der dicke Tierfänger gestikulierte mit beiden Armen, um zu zeigen, wie Hilde ihn angegriffen hatte. Schließlich geleitete man sie zum Krankenwagen und half ihr beim Einsteigen. Autotüren knallten. Die beiden Fahrzeuge setzten sich in Bewegung, zuerst das Auto mit Hildes Katzen, dann der Krankenwagen mit Hilde selbst. Sie fuhren den Beutelweg hinunter, unterschiedlichen Zielen entgegen.

Berlin Hauptbahnhof war zu viel für den Hund. Schon Elena konnte die Bedrohung spüren; Fidi geriet völlig außer sich. Ihre Hinterhand schlotterte wie von Lähmungserscheinungen. Schutzsuchend drängte sie sich an Elena und schreckte gleichzeitig vor jedem Passanten zurück, wobei sie ihr schmächtiges Frauchen fast aus dem Gleichgewicht brachte. Der Hund hatte recht. Ein so monströses Gebäude musste man nicht errichten; so viele Menschen musste man nicht in einem Gebäude versammeln; so viele Läden brauchte kein Mensch.

Vage erinnerte sich Elena, über den neuen Hauptbahnhof etwas im Radio gehört zu haben. Die Meldung hatte keinerlei Relevanz für sie besessen, wie eigentlich alles, was im Radio oder Fernsehen berichtet wurde. Der Berliner Hauptbahnhof gehörte zu den Dingen, die Menschen betrafen, die sich im Kampf gegen die Langeweile für die falsche Seite entschieden hatten. Elena überlegte, wann sie zuletzt in Berlin gewesen war. Einmal hatte Püppi sie überredet, die Hauptstadt zu besichtigen. Es war ein schöner Ausflug geworden, mit Bootsfahrt auf der Spree und italienischem Essen. Sie hatte sich vorgenommen, öfter in die Stadt zu fahren, und es dann doch nicht getan. Berlin fehlte es an Gründen. Kein einziger Tag verlangte bei Sonnenaufgang, in Berlin verbracht zu werden. Elena hatte nichts gegen die Stadt; sie hatte auch nichts gegen London, Washington oder Peking, solange sie nicht hinfahren musste. Von Unterleuten aus gesehen war Berlin genauso weit weg und spielte genauso wenig eine Rolle wie jede andere Hauptstadt der Welt.

Jetzt war sie froh um jede einzelne Minute, die ihr der Fahrplan zum Umsteigen ließ. Mit Fidi konnte sie die Rolltreppen nicht benutzen; einen Aufzug wollte die Hündin nicht betreten, und auf den gewöhnlichen Treppen brauchte das Tier mit seinen zitternden Beinen ewig für jede Stufe. Menschen drehten sich nach ihnen um und sagten »der Arme« oder »was hat er denn«. Elena folgte den Hinweisschildern Richtung Gleis 13, bis Gleis 13 nicht mehr existierte, und kehrte um. Ein verwahrloster junger Mann, der eine große getönte Brille trug, obwohl kaum Sonnenlicht in den Hauptbahnhof drang, und eine Zigarette im Mundwinkel balancierte, die nicht brannte, wollte erst einen gebrauchten Fahrschein und fragte dann, ob er helfen könne. Tatsächlich zeigte er ihr den Aufstieg zum richtigen Gleis. Der Bahnsteig war lang wie die Unterleutner Dorfstraße. Es gab keine Sitzbänke und auch sonst nichts, unter das Fidi hätte kriechen können.

Wie üblich in der Erntezeit war Gombrowski am Vorabend erst gegen neun nach Hause gekommen. Die Küche hatte sich mit dem Licht eines brandroten Sonnenuntergangs gefüllt, das den Raum und alle vertrauten Gegenstände fremd, fast surreal wirken ließ. Elena hatte schon gegessen. Sie legte ein Messer und eine Gabel auf den Küchentisch, während sich Gombrowskis Teller in der Mikrowelle drehte. Kohlrouladen und selbstgemachter Kartoffelbrei. Sie setzte sich neben ihn und sah zu, wie er das Essen verschlang. Er brauchte nie länger als fünf Minuten für eine Mahlzeit, gleichgültig, was und wie viel auf dem Teller lag. Elena glaubte nicht, dass er in dem Moment, wenn er sich den Mund mit der Serviette wischte, noch wusste, was er zu sich genommen hatte.

»Heute Nacht gibt es Regen«, sagte er, nachdem der letzte Rest Kartoffelbrei in seinem Mund verschwunden war. »Wir schaffen die Felder Richtung Groß Väter nicht mehr.«

Dann stand er auf und ging die Treppe hinauf. Kein Wort über Hilde. Dabei musste die Kunde von den Ereignissen in Windeseile zu ihm vorgedrungen sein. Mit Sicherheit hatte er im größten Erntestress Mähdrescher, Lastwagen und Kornspeicher im Stich gelassen und den Rest des Tages am Telefon verbracht. Er hatte mit der Polizei gesprochen, mit Sanitätsdienst, Krankenhaus und Gesundheitsamt, mit dem Tierheim und wahrscheinlich sogar mit seinen Freunden in den verschiedenen Ministerien in Potsdam. Er hatte getobt und gedroht. Vielleicht sogar gebettelt. Er hatte verlangt, mit Hilde Kessler verbunden zu werden. Vielleicht war er nach Neuruppin ins Klinikum gefahren, und man hatte ihn nicht zu ihr gelassen. Elena kannte die Spuren von Misserfolg in seinem Gesicht. Es kränkte sie tief, dass er nicht mit ihr sprach. Dass er seine Sorgen mit keinem Sterbenswörtchen erwähnte, selbst dann, wenn Hilde als Ansprechpartnerin nicht zur Verfügung stand. Dabei wäre Elena bereit gewesen, ihm zu helfen. Sie hätte ihm angeboten, am nächsten Tag nach Plausitz oder Neuruppin zu fahren und alle nötigen Behördengänge zu übernehmen, um Hilde und ihre Katzen freizubekommen. Nachdem sie den Abtransport nicht verhindert hatte, wollte sie jetzt alles tun, um das Geschehene rückgängig zu machen. Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil sie einfach nicht anders konnte, als ihrem Ehemann zu helfen, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen lief.

Sie hatte gerade den abgegessenen Teller in die Spülmaschine gestellt, als seine Schritte die Treppe herunterpolterten. Die Farbe des Lichts in der Küche hatte sich von Rot zu Blaugrau verändert; die Sonnenuntergänge in Unterleuten waren intensiv, aber kurz. Gombrowskis Gestalt füllte den Türrahmen aus. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu wissen, was passiert war. Das Kissen. Elena hatte es auf der Fensterbank des Arbeitszimmers vergessen.

Als der ICE einfuhr, begann Fidi zu winseln. Elena fand den richtigen Waggon und einen kräftigen jungen Herrn, der ihr half, den Hund wie ein sperriges Gepäckstück in den Zug zu heben. Als Elena ihm zum Dank etwas Geld geben wollte, lachte er.

Gombrowski wurde oft wütend. Er brüllte, schlug gegen Wände und Möbelstücke, drohte mit Prügeln und teilte sie aus. Viele Male hatte er sie in der Vergangenheit geohrfeigt, quer durchs Zimmer geschleudert, die Kellertreppe hinuntergestoßen.

Er hatte, möge Gott diese Erinnerungen endlich tilgen, immer wieder die Hand gegen Püppi erhoben. Aber bis zu jenem Abend hatte sie nie geglaubt, dass er sie umbringen würde. Er stand im Türrahmen, starrte sie an und tat gar nichts. An ihm vorbeizukommen, war unmöglich. In Elenas Reichweite befanden sich zwei Küchenscheren sowie der gesamte Inhalt der Spülmaschine, zu dem ein Brotmesser und der Kartoffelstampfer gehörten. Sie stellte sich vor, einen spitzen Gegenstand in Gombrowskis Fleisch zu stoßen, und erkannte sofort, dass sie dazu nicht in der Lage war. Stattdessen beschloss sie, mit dem Kartoffelstampfer die Fensterscheibe einzuschlagen, um auf diesem Weg ins Freie zu gelangen.