»Du warst es«, sagte Gombrowski. »Du hast sie angezeigt und zugeschaut, wie man sie abholt.«
Elena hatte noch nicht einmal nach dem Kartoffelstampfer gegriffen, geschweige denn einen Ausfallschritt Richtung Fenster versucht, als er schon vor ihr stand und sie am Hals packte.
»Ich war es nicht«, sagte sie. »Ich schwöre es bei Püppis Leben.«
Sie spürte, wie dünn ihr Hals in seinen Händen war, wie leicht man ihn zudrücken, brechen, einfach abdrehen konnte.
Dann gab es eine Lücke in ihrer Erinnerung. Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Küchenboden. Gombrowski war verschwunden.
Im ICE war es unmöglich, Fidi so zu platzieren, dass niemand über sie stolperte. Sie passte nicht unter die Sitze, und selbst als sie bereitwillig in den Fußraum kroch, ragte ihr Hinterteil in den Gang.
Die anderen Fahrgäste mussten ihre Rollkoffer über sie hinwegheben. Dafür entspannte sich die Hündin ein wenig; der Teppichboden und die gleichmäßige Fahrweise schienen sie zu beruhigen.
Elena hatte sich am Küchenschrank festgehalten, um auf die Füße zu kommen. In ihr wirkte eine Kraft, die sie nie zuvor gespürt hatte, nicht, wenn sie sich zwischen ihre Tochter und ihren Mann geworfen hatte, nicht, wenn sie eine halbe Stunde später das Abendessen kochte, als wäre nichts geschehen. Was Elena antrieb, war makelloser Zorn, wie er nur als Folge von echter Ungerechtigkeit entsteht. Sie lief ins Wohnzimmer, ins Esszimmer, ins Bad und auf die Terrasse. Sie rannte die Treppe hoch und fand Gombrowski an seinem Schreibtisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Sie räusperte sich, um zu prüfen, ob die Stimmbänder das Zusammendrücken der Kehle überstanden hatten. Dann schrie sie.
»Du verdammte Memme! Wolltest mich umbringen und konntest es nicht!«
Gombrowski sah auf. Seine Augen waren rot wie von großer Müdigkeit.
»Du lächerlicher Schwachkopf!«, schrie Elena. »Warum hätte ich mich jetzt plötzlich gegen Hilde wenden sollen? Nachdem ich deine Geliebte ein halbes Leben ertrage? Ist das zu viel Logik für dein Spatzengehirn?«
Sie sah ihm an, dass er diese Erkenntnis inzwischen selbst gefasst hatte. Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Sie sagte sich, dass er sie einfach in der Küche hatte liegen lassen; dass er sich niemals entschuldigen würde, auch wenn er wusste, dass er im Unrecht war. Der Zorn wollte trotzdem nicht wieder auflodern.
Sie stand im Türrahmen, viel zu klein, um ihn auszufüllen, und wartete darauf, dass Gombrowski reagierte. Dass er mit einem »Was soll’s« oder »Irgendwas ist immer« zur Tagesordnung überging. Als seine Antwort kam, wünschte sie, ihn niemals zur Rede gestellt zu haben.
Der ICE näherte sich Hannover. Lautsprecher sagten die Anschlussverbindungen durch; einige Fahrgäste machten sich zum Aussteigen bereit. Elena ließ Fidi aufstehen. Die Hündin legte ihr den Kopf aufs Knie und sah sie treuherzig an. »Bis hierhin haben wir es doch ganz gut geschafft«, schien ihr Blick zu sagen. Auch Elena erhob sich. Gemeinsam stellten sie sich in den Vorraum und warteten.
»Hilde war niemals meine Geliebte«, hatte Gombrowski gesagt.
Der Satz hatte Elena wie ein Blitzschlag getroffen. Sie hatte zu lachen begonnen. Gombrowski war vollkommen ruhig geblieben.
»Wo wir gerade beim Thema Logik sind«, sagte er. »Hast du dich nie gefragt, warum ich dich nicht verlassen habe? Spätestens nach Püppis Auszug und Eriks Tod hätte ich doch die Scheidung einreichen können, um Hilde zu heiraten.«
Elena lachte noch lauter, aber es war kein echtes Lachen mehr. Das war künstlicher Hohn, an dem sie sich noch ein paar Sekunden festhalten wollte, bevor sie in den Abgrund stürzte. Sie erkannte an der Art, wie Gombrowski die Schultern hob, dass er die Wahrheit sprach.
»Du hast es nie begriffen, aber ich habe immer zu dir gestanden, Elena. Mein ganzes Leben habe ich für dich und Püppi geführt. Nicht immer gut, nicht ohne Fehler. Aber immer für euch beide. Dann erst für Hilde. Und ein bisschen für Fidi. Für meine Frauen eben.«
Er lächelte ein Lächeln, das einer vorsichtig ausgestreckten Hand glich. Elena floh vor diesem Lächeln über den Flur, die Treppe hinunter und in den Garten. Hinter dem Geräteschuppen kauerte sie sich auf den Boden und versuchte zu weinen. Es gelang nicht. Da war nur eine große Leere, in der ihre Vergangenheit in rasendem Tempo verschwand.
In Hannover sprang Fidi mit einem Satz aus dem Zug und wedelte mit dem Schwanz, als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Einige Fahrgäste hoben Gepäck aus dem Zug und gingen über den Bahnsteig davon. Andere stiegen ohne Koffer aus, zündeten Zigaretten an und nahmen ein paar hastige Züge, was der Schaffner mit einem Augenzwinkern ignorierte. Vermutlich war er selbst Raucher.
Elena entfernte die Hundemarke von Fidis Halsband und knotete die Leine an einen Mast auf dem Bahnsteig. Sie stellte sich neben den Hund und wartete, bis die Türen des ICE zu piepsen begannen. In diesem Augenblick sprang sie zurück in den Zug.
Die vergangene Nacht hatte sie im Freien verbracht. Gombrowski hatte nicht nach ihr gesehen, was sie auch nicht erwartet hatte. Der angekündigte Regen blieb aus. Vielleicht hatte sie ein wenig hinter dem Geräteschuppen geschlafen. Im Morgengrauen beschützte sie wie jeden Tag die Kois vor den Reihern. Dann warf sie in alter Gewohnheit ein paar Steine auf Hildes Dach, obwohl niemand mehr da war, um von dem Lärm zu erwachen.
Eine Tatsache stand ihr so klar vor Augen, dass sie gar nicht darüber nachdenken musste: Es war zu Ende. Gombrowski hätte sie umbringen sollen. Er hätte sie beschimpfen können, ihr alle Knochen brechen, weiterhin glauben, dass sie für die Abholung der Katzen verantwortlich war. Er durfte ihr alles nehmen, nur nicht sein Verhältnis zu Hilde Kessler. Der Satz »Hilde war niemals meine Geliebte« ließ Elenas Universum in sich zusammenfallen. Gestern und heute, Täter und Opfer, Schuld und Unschuld tauschten die Plätze. Jenseits dieses Satzes herrschte Sinnlosigkeit und freier Fall. Während sie geglaubt hatte, dass er sie betrog; während er sie angebrüllt und verprügelt hatte, hatte sie Gombrowski immer geliebt. Jetzt hasste sie ihn. Als er gegen halb sieben in der Früh das Haus verließ, ging sie hinein und rief ihre Tochter an.
»Endlich«, sagte Püppi. »Ich dachte schon, du checkst es nie.«
Elena hatte gefrühstückt und sämtliche Räume geputzt. Danach duschte sie, kleidete sich an und rief ein Taxi.
Als sich die Türen des ICE schlossen, erkannte Elena erstaunt, wie sehr Fidi an ihr hing. Sie waren sich nie sympathisch gewesen, sie hatten einander nichts zu sagen gehabt, und doch genügte das Leben im selben Haushalt aus Fidis Sicht, um fest daran zu glauben, dass Elena sie niemals verraten würde. Während der Zug anfuhr, sah Elena durch die Glasscheibe, wie Fidi ihr in fassungsloser Verzweiflung nachspringen wollte, von der Leine zurückgerissen wurde und auf den Rücken fiel. Trotz der hermetisch geschlossenen Fenster hörte sie das Jaulen des Hundes; dann geriet Fidi aus dem Blickfeld.
Elena setzte sich zurück auf ihren Platz. Ohne den Hund fühlte sie sich erleichtert und frei. Plötzlich verstand sie, warum sie keinerlei Gepäck bei sich trug; warum sie nicht einmal daran gedacht hatte zu packen, als sie Gombrowski und Unterleuten verließ. Sie war unschuldig. Sie fuhr als Unschuldige, weil alles, was Schuld war, für immer hinter ihr zurückblieb.
Teil VI
Fallwild
Als Fallwild bezeichnet man Wild, das ohne jagdliche Einwirkung zu Tode gekommen (»gefallen«) ist.
wikipedia.org/wiki/Fallwild
51 Wachs
»Sind das Schnepfen?«
Frederik sah zwölf mittelgroße, braun gescheckte Vögel, die in etwa 300 Meter Entfernung auf einem abgeernteten Feld saßen und etwas zu fressen schienen. Wenn sie den Hals senkten und dabei das Hinterteil hoben, zeigten sie ihr helles Unterkleid.