Linda beendete ihre Präsentation und blickte ihn an wie ein Hund, der eine Belohnung für ein gelungenes Kunststück erwartet. In diesem Augenblick erkannte Frederik, was David Lynch ihm sagen wollte. Er begriff, warum es ihm nicht gelang, über geköpfte Barbies einfach zu lachen.
»Wir können hier nicht weg«, sagte er.
Stille breitete sich aus. Die Schwalben legten eine Pause ein, sogar Karls Hammer schwieg. Frederik wusste nicht, ob Linda über seine Worte nachdachte oder ob sie eigenen Gedanken nachhing. Es war unangenehm, in den hallenden Raum zu sprechen,
»Das ist keine Mietwohnung. Hier verschwindet man nicht einfach, wenn einem die Nachbarn nicht passen. So ein Haus ist eine Fußfessel. Du verfängst dich auf einem Stück Erde, in einem Dorf, dem Landkreis, in der ganzen Republik.« Er legte ihr die flache Hand auf die Stirn. »Da! Ein Etikett. Was steht drauf? ›Eigentum von Unterleuten‹. Verstehst du, was ich sage, Linda? Mit den Typen, die geköpfte Barbies verteilen, müssen wir bis an unser Lebensende zurechtkommen. Wenn du es vermasselst, sitzen wir in der Scheiße.«
Sie nahm seine Hand von ihrer Stirn und legte sie auf ihre linke Brust.
»Ich sage dir, was dein Problem ist, Frederik Wachs. Du vertraust mir nicht. Du hältst mich für eine dumme Gans, die nicht weiß, was sie tut.«
Er wollte protestieren, aber mit ihrer Brust in der Hand fiel ihm das schwer. Außerdem ahnte er, dass sie recht hatte. Die erste Erkenntnis wurde von einer zweiten ergänzt: Nicht-weg-Können setzte voraus, dass man weg wollte. Weg-Wollen setzte voraus, dass etwas schiefgegangen war. Dass Lindas Pläne schiefgehen würden, stand für Frederik fest. Aber eben nur für ihn. Niemand sagte, dass er recht behalten würde, zumal Rechtbehalten, wie die Erfahrung zeigte, nicht zu seinen Stärken gehörte. Es gibt eben keine Wahrheit, dachte er, während er nach der zweiten Brust griff und Linda sich auf den Rücken sinken ließ, sondern immer nur Perspektiven.
Es kam nicht oft vor, dass sie gleich zweimal miteinander schliefen. Wenn es geschah, machte es Frederik glücklich. Danach schmerzten seine Knie wie nach einem Sturz auf Asphalt, aber der Karton unter der Couch hatte alles Bedrohliche verloren. Als Linda einen Spaziergang über die Felder vorschlug, hatte er eingewilligt.
Jetzt spürte er, wie ihm die Schönheit der Landschaft den Brustkorb dehnte. Der Kiefernwald stand in Reih und Glied; das Gelb der Stoppelfelder erstreckte sich bis zum Bahndamm, auf dem sich das weiß-rote Band eines ICE bewegte, von der Entfernung auf ein erträgliches Tempo verlangsamt. Der Sand des Wegs war sauber wie gesiebt; kein Bonbonpapier, keine Zigarettenkippe, kein zerknülltes Taschentuch, nicht einmal eine Fußspur berichtete von der Anwesenheit anderer Menschen. Über ihnen wölbte sich der Himmel kuppelförmig wie in einer literarischen Beschreibung. Vielleicht hatte Linda recht, dachte Frederik: Heimat wurde nicht aus Mietshäusern und Straßenbahnen, sondern aus Erde und Horizonten gemacht. Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. So gingen sie eine Weile schweigend, und der Sand staubte unter ihren Füßen.
»Was ist das denn?«
Zwischen den Bäumen wurde ein hoher Stahlzaun sichtbar, der eine Lichtung einschloss. Das Gras war sorgfältig gemäht.
»Ein Gehege für Raubkatzen?«
Ein grasbewachsener Weg führte zum Eingangstor, neben dem sich ein Display mit Tastatur sowie eine Überwachungskamera befanden. Hinter den Zaunstäben stand in der Mitte der Wiese ein kleiner Ziegelbau. Ein Schild am Tor informierte über die Trinkwasserförderungsanlage von Unterleuten und erklärte die Funktionsweise des Horizontalfilterbrunnens. Frederik hielt Linda, die weiterwollte, an der Hand fest und studierte die Abbildungen, bis er das Prinzip verstanden hatte. Anscheinend befand sich unter dem Ziegelbau ein zwanzig Meter tiefer Schacht. Das Besondere war, dass der Brunnen Sauerstoff ins Grundwasser pumpte, so dass die zur Wasseraufbereitung nötigen Oxidationsprozesse unterirdisch ablaufen konnten. Was an die Oberfläche gebracht wurde, besaß Trinkwasserqualität und floss direkt in die Wasserhähne Unterleutens. Gezeichnet, der Bürgermeister.
»Genial«, sagte Frederik.
»Absolut«, spottete Linda. »Wenn du das ganze Dorf vergiften willst, musst du hier das Botulinum reinwerfen.«
Aber Frederik achtete nicht auf sie. Mit einem Schlag hatte eine Idee von ihm Besitz ergriffen, so mächtig, dass die ganze Umgebung verändert schien. Mit Linda an der Hand drehte er sich um und ließ den Blick langsam über die Felder streifen. An der Struktur der Stoppeln erkannte er, dass Sommergerste geerntet worden war. Sechs Jahre mit Traktoria hatten ihn zu einem Experten für landwirtschaftliche Erzeugnisse werden lassen. Plötzlich wusste er, wie sein Leben weitergehen würde. Seit Monaten diskutierten sie bei Weirdo über Möglichkeiten, die Traktoria-Welt zu erweitern. Gerade hatten sie das dreiundzwanzigste Tier released, einen Vogel Strauß mit auftoupiertem Hintern, ein Auge etwas größer als das andere, was ihm einen drolligen Gesichtsausdruck verlieh. Typisches Timo-Design und ein voller Erfolg. Eine Stunde nach dem Release waren die ersten hunderttausend Straußenfarmen verkauft. Trotzdem würde es den Leuten früher oder später langweilig werden, ihre Bauernhöfe nur durch immer neue Tiere zu erweitern. Timo und Ronny hatten bereits angefangen, sich Deko-Gegenstände auszudenken, einen Koi-Teich, Zierkürbisse und Hecken in lustigen Formen. Aber das war Tand, mit dem die Spieler nicht arbeiten konnten.
»Kampfläufer«, sagte Frederik.
»Wo?«, fragte Linda.
»Ich weiß jetzt, wie sich Traktoria ausbauen lässt.«
»Die Kampfläufer als neues Feature?« Nachdenklich sah sie ihn an. »Das sind doch keine Nutztiere.«
»Eins muss man dir lassen: Blöd bist du nicht.«
»Ein Naturschutzgebiet als Spielerweiterung?«
»Als komplett neue Sonderzone, vielleicht ab Level 100.«
In Lindas Augen blitzte es.
»Gute Idee«, sagte sie. »Naturschutz ist ein knallhartes Geschäft. EU-Subventionen, Arbeitsplätze, Öko-Betriebe. Den Tourismus nicht zu vergessen. Erwähnte ich bereits, dass mein neuer Freund Fließ gern mit weiteren Informationen hilft?«
Frederik lachte. Linda hatte es sofort begriffen. Der Naturschutz eröffnete den Traktoria-Spielern ein völlig neues Betätigungsfeld. Sie konnten mit Brachflächen Geld verdienen, was sie motivieren würde, wieder mehr Land zu kaufen, obwohl die Grundstückspreise in letzter Zeit durch die Decke gingen, während die Marktpreise für Getreide und Gemüse kontinuierlich fielen. Ohne die ständigen Quests wäre der Wirtschaftskreislauf von Traktoria längst zusammengebrochen. Frederiks Einfall bedeutete eine ernstzunehmende Expansion, mit eigenen Entwicklern, eigenem Management. Eigenem Geschäftsführer. Er selbst würde das Konzept entwickeln, die Verläufe durchrechnen, vielleicht Entwürfe für die ersten Features programmieren. Kampfläufer. Horizontalfilterbrunnen. Vogelschutzwarte. Öko-Hotels. Schon jetzt stießen sich die Ideen gegenseitig an wie Dominosteine.
Jahrelang hatte Frederiks Stolz es verboten, irgendeine Form der Sonderbehandlung von Seiten der Firmenleitung zu akzeptieren. Aber wenn er zum Vater einer komplett neuen Traktoria-Generation würde, stellte sich die Sachlage anders dar. Man konnte eine eigene Marke entwickeln, »Traktoria nature, by Frederik Wachs«, ein kleines Unter-Universum in der Traktoria-Welt. Damit gäbe es Anlass für eine Beteiligung an Weirdo. Frederiks Einkommen würde sich vervielfachen. Die Renovierung von Objekt 108 würde plötzlich nur noch eine Lappalie darstellen, und er könnte Bergamotte nach Unterleuten holen, ohne dass Linda ihre Seele ans Dorf verkaufen musste. Schon sah Frederik, wie er ein eigenes Team von Entwicklern betreute. Lauter neu eingestellte junge Genies, mit denen er die Normalverteilung der Öko-Tomaten-Börse oder den möglichen Verlauf eines Renaturierungs-Quests oder das Design eines niedlichen Kampfläufers diskutierte. Auch wusste er bereits, wie er sein Konzept pitchen würde: