»Traktoria nature bedient mehrere Zielgruppen, erfüllt die Anforderungen an den agrartechnischen Wirklichkeitsbezug und ist ausbaufähig. Über EU-Subventionen kommen die kühl kalkulierenden Spieler auf ihre Kosten. Aber auch für Ästheten und Sammler ist es der reinste Abenteuerspielplatz. Viele Gestaltungsmöglichkeiten, hoher Pflegeaufwand, alle zwei Monate eine neue vom Aussterben bedrohte Tierart zum Auswildern, von Laubfrosch bis Weißstorch.«
Linda musterte ihn von der Seite, bemüht, seine Gedanken zu lesen.
»Du weißt, dass man gute Ideen teuer verkauft?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Danke für den Hinweis. War nicht nötig.«
Sie küsste ihn auf die Wange: »Ich freue mich schon auf den Windkraft-Quest.«
Dann zog sie ihn zurück auf den Sandweg. Frederik stolperte willenlos hinterher, während sein Verstand unter Volldampf arbeitete. Mit einem Mal ergab sein Teilzeit-Leben in Unterleuten Sinn. Noch die absurdeste Erfahrung wie der Windkraftstreit würde sich für Traktoria nature nutzen lassen. Auf einem höheren Level würden die Spieler entscheiden müssen, ob sie in erneuerbare Energien investierten und hohe Pachtpreise erzielten oder ob sie lieber die mühsam aufgebaute Artenvielfalt schützten und Tourismus-Punkte sammelten. Frederik rieb sich die Arme, seine Haut prickelte, als hätte er Kohlensäure im Blut. Dieses Gefühl hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt, genau genommen seit seiner Jugend, als er mit Timo und Ronny halbe Nächte vor dem Monitor verbracht und an Spielentwürfen gefeilt hatte. Er stellte sich vor, wie er Timo und Ronny von seiner Idee erzählen würde und wie sie sofort begeistert wären. Er sah sich Nächte vor dem Rechner verbringen, eingesponnen in einen Kokon aus höchster Konzentration und bläulichem Licht, die Welt um sich herum vergessend wie in alten Zeiten. Er lächelte vor sich hin, während sie durchs Dorf zurückgingen, und das Dorf lächelte zurück. Irgendwo krähte ein Hahn. Es klang wie das Startzeichen zum Eintritt in ein neues Level.
52 Gombrowski
»Hier bist du also«, sagte Betty.
Als Gombrowski die Augen aufschlug, stand sie vor der Anrichte und kochte Kaffee. Zwei Sorten Kaffee, wie jeden Morgen. Sie drehte sich nicht zu ihm um, während sie sprach.
»Wir haben versucht, dich zu erreichen. Zu Hause warst du nicht, und das Handy war ausgeschaltet.«
Er versuchte, sich aus dem Sessel zu stemmen, und sank stöhnend zurück. Sein Rücken war eine komplizierte Skulptur aus Schmerz.
»Ist was passiert?«, fragte er.
»Trink erst mal deinen Kaffee.«
Betty reichte ihm eine Tasse, der Inhalt war nicht durchsichtig, sondern schwarz. Aus der bösen Kanne. Es musste definitiv etwas passiert sein. Sie blieb vor ihm stehen und sah zu, wie er den ersten Schluck nahm.
»Was tust du hier?«, fragte sie.
Gombrowski murmelte etwas von »nach dem Rechten sehen« und versteckte das Gesicht hinter der Kaffeetasse. Die Wahrheit war, dass er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Ohne Elena und Fidi dröhnte ihm die Leere der Räume in den Ohren. Seit Tagen tigerte er von einem Zimmer ins andere und kam nicht zur Ruhe, weil er keinen Grund fand, sich irgendwo hinzusetzen, geschweige denn hinzulegen. Warum sollte er sitzen, wenn Elena nicht mit Pfannen und Töpfen werkelte, um ihm im nächsten Augenblick das Essen hinzustellen? Wenn keine Fidi kam, um sich gegen sein Knie zu drücken? Wenn es nicht mehr darum ging, sich auf eine Augenhöhe mit der zwergenhaften Hilde zu begeben? Und warum sollte er sich hinlegen, wenn er ohnehin nicht schlafen konnte?
Abend für Abend stand er am Fenster des Arbeitszimmers und betrachtete die geschlossenen Fensterläden an Hildes Haus, in das sie niemals zurückkehren würde. Er stand vor dem Wohnzimmerregal und drehte einen kleinen Specksteinelefanten zwischen den Fingern, der ihm noch nie aufgefallen war. Er stand im Türrahmen des Esszimmers und verzehrte sein Mikrowellen-Essen direkt aus der Plastikschale. Er stand vor der Haustür, im Bad vor dem Spiegel oder neben seinem Schreibtisch, wo er mit der flachen Hand Unterlagen durcheinanderschob. Wenn er nicht stand, lief er. Von der Küche über den Flur ins Gästebad, die Treppe hinauf, um einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen, danach ins Arbeitszimmer und einmal um den Schreibtisch, die Treppe wieder hinunter, raus in den Garten, rund um den Teich. Er zählte die Kois, einer fehlte, er ging bis zur hinteren Grundstücksgrenze und wieder zurück. Seit Elenas Verschwinden war Gombrowski auf der Flucht, getrieben von Dingen, die er ein Leben lang als sein Zuhause betrachtet hatte und die sich jetzt verbündeten, um ihn zu verhöhnen. Die brachliegende Küche sah mit ihren geschlossenen Schränken und Schubladen aus, als presste sie spöttisch die Lippen aufeinander. Fidis Näpfe, der eine blank geschleckt, der andere noch voll Wasser, standen als Symbol der Sinnlosigkeit im Flur. Im Arbeitszimmer ließ sich das Kissen nicht von der Fensterbank entfernen – immer wenn Gombrowski die Hand danach ausstreckte, fuhr er zurück, als könnte es nach ihm schnappen.
Fünf Tage lang hatte er versucht, der Feindseligkeit seines ehemaligen Zuhauses standzuhalten. Am sechsten Abend ging er in den Märkischen Landmann. Niemand wagte zu fragen, was mit Elena geschehen sei. Gombrowski hielt sich an der Bar fest, sprach nicht und bestellte einen Schnaps nach dem anderen, bis Silke die Stühle auf die Tische stellte und ihn aufforderte, endlich zu gehen.
Vor der Tür begriff er, dass der einzelne, konkrete Gombrowski kein Haus benötigte. Er brauchte nur einen Platz, der dem Volumen seines Körpers entsprach. Das Haus mit dem blauen Dach und dem kleinen, würfelförmigen Nachbargebäude war Elenas, Püppis, Fidis und Hildes Lebensraum gewesen. Für seine Frauen hatte er das Anwesen gebaut, mit dem Verschwinden der Frauen hatte es sich in ein Mausoleum verwandelt.
So war Gombrowski in der letzten Nacht nicht nach Hause, sondern vom Märkischen Landmann direkt in die Ökologica gegangen. In seinem Schreibtischsessel, voll bekleidet, unter einer der Filzdecken, die zum Abtransport toter Kälber verwendet wurden, hatte er ein paar Stunden Schlaf gefunden.
Betty wandte sich ab und zog die Jalousien hoch. Die Morgensonne blendete. Gombrowskis Füße waren eingeschlafen und kribbelten beim Versuch, sie zu bewegen. Bettys breiter Rücken bewegte sich von der Anrichte zum Waschbecken und wieder zurück, immer so, dass er sie nur von hinten sehen konnte.
Zum ersten Mal fragte sich Gombrowski, ob nicht nur Kron und die Gerüchteküche, sondern vielleicht auch Elena geglaubt haben konnte, dass Betty seine Tochter sei. Seit Neuestem wusste er, dass Elena seine Loyalität immer nur mit dem Verdacht belohnt hatte, er würde genau jenes Verhältnis pflegen, welches er sich ein halbes Leben lang versagt hatte. Wenn er sich vorstellte, dass Elena geglaubt hatte, er sei jeden Morgen in die Ökologica gegangen, um dort seine Tochter anzutreffen, die ihm Kaffee kochte und die Arbeitspläne vorlegte, wurde ihm übel.
»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Gombrowski.
»Wie soll’s ihr schon gehen. Sie ist in Kurzzeitpflege und wartet auf einen Platz im Heim.«
»Warum kommt sie nicht zurück?«
»Frag sie doch selbst.«
»Ich hab alles versucht, Betty. Hundertmal angerufen. Sie spricht nicht mit mir.«
»Vielleicht solltest du dir mal überlegen, warum.«
»Denkst du, ich sei schuld daran, dass sie weg ist? Sagst du mir dann bitte, was ich falsch gemacht habe?«
Betty schwieg; Gombrowski wurde laut.
»Was war mein verdammter Fehler?«
Mit empfindlichem Klirren trafen zwei Tassen auf die Unterteller, dann fiel die Tür der Anrichte krachend ins Schloss. Es hatte keinen Sinn. Betty glaubte nicht an Warum-Fragen. Sie hielt ihn für schuldig, und Schluss. Mit beiden Händen rieb er sich das Gesicht; er spürte Bartstoppeln und schmeckte den eigenen Mundgeruch. Er hatte vergessen, Rasierzeug und Zahnbürste mit in die Firma zu bringen. Wenigstens gab es auf dem Gelände eine Dusche.