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»Hat Hilde Katzen?«, fragte er. »Wenigstens eine?«

»In der Einrichtung sind keine Haustiere erlaubt.«

Betty warf Besteck in die Spüle und knallte die Zuckerdose in den Schrank. Jedes der Geräusche ging Gombrowski durch Mark und Bein.

»Das ist doch unmöglich, Betty. Hilde ohne Katzen. Wir suchen ein Altersheim, wo man Tiere halten darf.«

»Mama will keine Katzen mehr. Nie wieder, hat sie gesagt.«

Das tat weh. Gombrowski angelte nach seinen Stiefeln, wobei er den tonnenförmigen Bauch zwischen Brust und Oberschenkeln zusammendrücken musste. Als er sich wieder aufrichtete, stand Betty vor ihm und sah auf ihn herunter.

»Es wird Gewitter geben. Sommergerste und Winterweizen müssen rein.«

»Weiß ich«, sagte Gombrowski.

»Wir schaffen das nicht. Durch den Streik haben wir zu wenig Leute.«

»Dann sollen die anderen sich doppelt anstrengen.«

»Wir sollten die Streikenden anrufen«, sagte Betty. »Um zu verhandeln.«

»Kommt nicht in Frage.« Gombrowski bückte sich erneut, um einen Fuß in den Schnürstiefel zu zwängen. Ohne Schuhlöffel ein aussichtsloses Unterfangen. Er spürte, wie sein Kopf rot anlief.

»Wenigstens Ingo oder Patrick. Und auf alle Fälle Angela. Sonst können wir das vergessen.«

»Das ganze Kron-Pack kann mir gestohlen bleiben!« Gombrowskis gepresste Stimme passte zur Gesichtsfarbe. »Ich habe denen nicht geraten, die Arbeit niederzulegen.«

»Mit viel Glück bleiben uns noch zwei Tage«, sagte Betty ungerührt. »Mit den Sektoren 17 und 23 haben wir noch nicht einmal angefangen. Und der Beuteler Bruch ist auch noch nicht fertig.«

»Was haben die scheiß Polen denn die ganze Nacht gemacht?«, rief Gombrowski. »Soljanka gekocht?«

»Soljanka ist russisch«, sagte Betty. »Und die Polen habe ich um 23 Uhr nach Hause geschickt.«

»Wieso das denn?«

Sie schwieg.

»Sag mir jetzt, was passiert ist.«

Betty zögerte, nur so lange, wie sie brauchte, um tief Luft zu holen.

»Der Tucano steht in Sektor 4. Dreschaggregat kaputt. Vielleicht auch der Schüttler.«

Die Worte vibrierten eine Weile in der Luft, bevor sie verklangen.

»Steinschlag?«, fragte Gombrowski schließlich.

»Wahrscheinlich hat er was Größeres eingezogen. Könnte ein Autoreifen gewesen sein.«

Normalerweise hätte Gombrowski auf den Tisch gehauen oder einen Locher durchs Büro geworfen. Er hätte gebrüllt wie ein Tier und wäre danach aktiv geworden, um die Probleme aus der Welt zu schaffen. Stattdessen fühlte er sich ruhig, auf eine endgültige, unumkehrbare Art. Als wäre alle Wut, die ihm für sein Leben zur Verfügung gestanden hatte, mit einem Mal aufgebraucht. Gefräßige Leere breitete sich in ihm aus, wuchs über die Grenzen seines Körpers hinaus und machte sich daran, die Umgebung zu verschlingen. Betty, das Büro, die ganze Ökologica. Er fühlte sich nicht mehr in der Lage, sich um den kaputten Mähdrescher zu kümmern. Er hatte keine Lust, sich zu fragen, wie der Autoreifen ins Feld gekommen war und was es für die Ernte und damit für den ganzen Betrieb bedeutete, wenn da draußen noch mehr Reifen lagen, geschickt verteilt in den Sektoren 4, 17 und 23, unsichtbar verborgen im hoch stehenden Getreide. Es war, als ginge ihn das alles nichts mehr an.

»Bist du in Ordnung?« Betty klang nicht mehr ungehalten, sondern besorgt. Weil er nicht antwortete, fuhr sie fort:

»Natürlich habe ich versucht, sofort den Service zu kriegen, aber da war nichts zu machen mitten in der Nacht. Sie kommen gleich nachher um acht. Den Tucano haben wir stehen lassen, ich wollte nicht allein entscheiden, ob er zurückgebracht wird, vielleicht können sie ihn gleich da draußen …«

»Ist gut, Betty.«

Erstaunt blickte sie auf.

»Willst du nicht rumschreien?«

»Du hast alles richtig gemacht.«

Irritiert stand sie im Raum und schien nicht weiterzuwissen.

»Hilf mir mal«, bat Gombrowski und zeigte auf seine Füße.

Ohne Umschweife ließ sie sich auf die Knie nieder, lockerte die Schnürsenkel des Stiefels und bog das Leder auseinander, bis Gombrowskis geschwollener Fuß hineinschlüpfen konnte. Genauso machte sie es mit dem anderen Schuh und band zum Abschluss die Schnürsenkel, als sei es das Normalste von der Welt. Danach erhob sie sich, ging zur Anrichte, schenkte Kaffee nach, den niemand trinken wollte. Mit der vollen Tasse setzte sie sich an ihre Seite des Schreibtischs, die unter Dienstplänen, Bestandsverzeichnissen, unerledigter Post, Rechtshandbüchern und dem endlosen Papierkram der Europäischen Union begraben lag. Wenn Betty eines Tages die Ökologica übernahm, würde sich ihr Papierchaos in Windeseile auf seine Schreibtischseite ausdehnen. Sie würde keine neue Sekretärin einstellen, weil sie ohnehin am liebsten alles selbst machte. Das ist dann das letzte Kapitel meiner Familiengeschichte, dachte Gombrowski: Eine junge Frau, mit der ich nicht einmal verwandt bin, führt einen EU-subventionierten Betrieb. Dafür hatte er ein Leben lang gekämpft, erst gegen die Kommunisten, dann gegen die Kapitalisten. Dabei hatte es immer nur einen wahren Diktator gegeben: das Land. Es wollte gepflegt, bewirtschaftet und beschützt werden, vor dem Wetter, vor gierigen Vogelschwärmen, Ungeziefer und Spekulanten. Vielleicht, dachte Gombrowski, war es meine größte Schwäche, dass ich es nicht geschafft habe, mich aus dieser Sklaverei zu lösen. Vielleicht bin ich deshalb an allem schuld.

Plötzlich erfasste ihn Angst. Vor ihm lag ein unüberschaubares Gebirge aus Zeit, zu Steilwänden aufgetürmte Jahre, Monate, Tage und Stunden, die Gombrowski allein bezwingen sollte. Das war alles, was ihm blieb – eine einsame Bergwanderung auf dem Weg ins Nichts.

Nein, dachte er. Das kann niemand von mir verlangen.

Betty telefonierte. Sie rief die Zeitarbeitsfirma an, um mehr Leute anzufordern. Sie machte dem Reparaturservice Dampf, damit der Tucano spätestens am Nachmittag wieder einsatzbereit wäre. Gombrowski saß da und tat gar nichts. Als sie ihm den Hörer über den Tisch reichte, schrak er auf, als hätte er geschlafen.

»Guten Morgen, Herr Gombrowski.«

Die Stimme hätte ohne Weiteres zu einer Telefonsex-Hotline gehören können. Gombrowski lächelte. Aus irgendeinem Grund mochte er Linda Franzen.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ich nehme an, Sie wollen sich bedanken.«

»Wofür?«

»Haben Sie die Baugenehmigung nicht erhalten?«

»Die lag gestern im Briefkasten.«

Nachdem der Vogelschützer seinen Widerstand aufgegeben hatte, war es ein Kinderspiel gewesen, das Papier zu beschaffen. Ein Anruf bei Arne, und kurz darauf ging die Genehmigung in die Post.

»Da müssten Sie jetzt wunschlos glücklich sein«, sagte er.

»Quasi.«

»Unser Notartermin steht bereits. Nächste Woche Mittwoch bei Frau Söldner in Berlin.«

Gombrowski begann, sich ein wenig besser zu fühlen. Wenigstens diese Sache konnte er erfolgreich zu Ende bringen. Mit Arnes Hilfe würde sich der Windpark in kürzester Zeit realisieren lassen. Die Ökologica konnte ihre Arbeitsplätze erhalten, Betty bekam eine sichere Grundlage für künftiges Wirtschaften, und Kron hatte verloren. Noch vor Ende des Jahres würden sich zehn langsame Propeller auf der Schiefen Kappe drehen, ein Denkmal für Gombrowski, welches daran erinnerte, dass man mit niederträchtigen Methoden nicht ans Ziel kam. Nicht, wenn auf der anderen Seite ein aufrechter Mann stand.

»Herr Gombrowski«, sagte Linda Franzen, »ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«

»Ich glaube kaum, dass Sie mich heute noch mit irgendetwas schocken können.«

»Ich werde die Schiefe Kappe nicht an Sie verkaufen.«

»Wie bitte?«

Er war tatsächlich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. Statt zu antworten, wartete Franzen darauf, dass sich das Verständnis von selbst einstellte.

»Wir haben eine Abmachung!«

»Es ist nicht meine Entscheidung.«

»Alles ist immer eine Entscheidung.«

»Ich wurde bedroht.«

»Schwachsinn.«

»Geköpfte Puppen. Zerschnittene Handschuhe.«