»Na und?«
»Mir macht das Angst.«
»Ihnen macht gar nichts Angst, Frau Franzen.«
»Ich kann Ihnen die Gegenstände zeigen.«
Gombrowski lachte nur.
»Das Ergebnis steht fest.« Linda Franzen klang ein wenig mechanisch. Vielleicht hatte sie ihren Text vor dem Telefonat auswendig gelernt. »Ich werde mich nicht weiter in diesen Windmühlenkrieg involvieren.«
»Weil du von mir schon bekommen hast, was du wolltest«, sagte Gombrowski. »Ich dachte, du hast Ehrgefühl. Willkommen in Unterleuten.«
In der Leitung entstand eine unangenehme Stille. Von draußen war das Rufen der Kühe zu hören, das Motorengeräusch eines Traktors, das regelmäßige Zischen der Melkmaschine. Betty saß an ihrem Platz und gab keinen Mucks von sich. Selbst die Zuchtbullen draußen in ihren engen Gitterboxen schienen darauf zu warten, was Gombrowski als Nächstes sagte.
»War das Krons Idee?«, fragte er.
»Mit Kron hat das nichts zu tun. Vielleicht beruhigt Sie das ein wenig.«
Erst glaubte er tatsächlich, es würde ihn beruhigen. Aber in Wahrheit war er gar nicht aufgeregt. Es war ihm egal. Franzens Anruf brachte etwas zu Ende. Eigentlich hätte er sie anschreien müssen, ihr drohen, ihre Selbstsicherheit erschüttern. Aber ihm fiel nichts ein. Da war kein Vokabular mehr für Drohungen. Da waren überhaupt keine Wörter, nur noch diese Leere, die alles verschlang. Weil Gombrowski sein Leben lang immer nur wütend und niemals traurig gewesen war, wusste er nicht, was mit ihm geschah. Er kannte den Sumpf nicht, in dem er versank. Er wusste nur, dass die Wut zu Ende war und dass ihm ohne Wut die Kraft fehlte für jeden weiteren Schritt.
»Vielen Dank für Ihr Verständnis«, sagte Linda Franzen und legte auf.
53 Meiler
Konrad Meiler hatte Spaß. Man konnte sogar sagen, dass er sich königlich amüsierte. Mit ganzem Wesen genoss er die Szene, die sich im Wartezimmer des Notariats Söldner abspielte.
Das Notariat befand sich im ersten Stock eines Gründerzeitbaus in Charlottenburg. Es gab einen weitläufigen Empfangsbereich mit unbesetzter Rezeption, Garderobenständer und Couchgarnitur. An den Wänden hingen mehrere Drucke von Magritte. Meiler hatte nie verstanden, warum Ärzte und Juristen glaubten, wartenden Kunden ihren Kunstgeschmack aufdrängen zu müssen. Erst kürzlich hatte er den Zahnarzt gewechselt, weil er es nicht länger ertragen hatte, im Vorfeld der Behandlung auf Leinwände zu starren, die irgendein Amateurkleckser, möglicherweise der Zahnarzt selbst oder seine Frau, mit dicken Farbbatzen beworfen hatte. Im Vergleich dazu war Magritte noch als angenehm zu bezeichnen. Trotzdem verstand Meiler nicht, was ihm Notarin Söldner über Grundstückskäufe, Eheverträge und Testamentseröffnungen sagen wollte, indem sie einen Mann mit Bowler in ihr Wartezimmer hängte, dessen Gesicht von einem Apfel verdeckt wurde.
Soeben war ein Moment der Stille eingetreten. Linda Franzen stand am Fenster neben dem Apfelmann und sah hinaus. Frederik saß auf der Couch, hatte das Gesicht in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt, in der typischen Toilettenhaltung ratloser Männer. Meiler wünschte sich eine Kamera. Nein, er wünschte sich keine Kamera, sondern die Möglichkeit, die Wirklichkeit wie einen Film zu bedienen. Er wollte die Pausentaste drücken und das Standbild genießen. Er wollte zurückspulen und noch einmal in Zeitlupe sehen, wie Linda aufsprang, während das lange blonde Haar um ihren Kopf flog. Wie es für einen Moment aussah, als wollte sie ihrem Freund eine runterhauen, und wie sie dann doch gelassen zum Fenster schlenderte, um hinauszuschauen. Er wollte alles noch einmal von vorn erleben, noch einmal aus dem Taxi steigen, sich dem Hauseingang nähern, in dem Linda Franzen lehnte, eine Hand in der Hüfte und eine Zigarette zwischen den Lippen, während Frederik mit heftigen Gesten auf sie einsprach und abrupt verstummte, als er Meiler bemerkte.
Sie hatten sich die Hand gegeben und danach geschwiegen. Der unterbrochene Streit hing schwer in der Luft und machte jeden Smalltalk unmöglich.
»Gehen wir rauf«, hatte Meiler vorgeschlagen, und Linda Franzen hatte ihre Zigarette weggeworfen.
In einer Reihe waren sie die Treppe hinaufgestiegen; Meiler vorneweg. Schon auf dem ersten Absatz fing Frederik wieder an zu nörgeln. Seitdem verhielten sich die beiden, als wäre Meiler entweder gar nicht da oder ein langjähriger Freund der Familie, vor dem man sich nicht zu schämen brauchte. Sie stritten seinetwegen, oder besser gesagt, wegen des Geschäfts, das Linda mit ihm abschließen wollte.
Wenn er Frederiks Suada richtig verstand, hatte das Windkraftprojekt in Unterleuten eine Art Krieg ausgelöst. Meiler erfuhr von entführten Kindern, abtransportierten Katzen und mafiösen Drohungen. Frederik vertrat die Ansicht, dass es unter den gegebenen Bedingungen sozialer Selbstmord sei, die zum Eignungsgebiet gehörenden Hektar an einen geldgierigen Investor zu verkaufen. Dabei warf er Meiler einen kurzen Blick zu, no offense. Meiler winkte versöhnlich zurück, none taken. Er empfand nicht die geringste Beunruhigung. Die Szene erschien ihm als Kammerspiel, nicht wie ein Vorgang, der seine Pläne gefährden könnte.
Was ihn so gebannt zuhören ließ, war die Art, wie Frederik und Linda miteinander sprachen. Die beiden gehörten zu einer fremden Spezies. Nichts an ihnen war gedämpft. Nichts an ihnen war unsicher, zurückhaltend, zweiflerisch oder bescheiden. Diese jungen Menschen, in Meilers Augen halbe Kinder, agierten als Repräsentanten eines neuen Jahrhunderts. Sie arbeiteten nicht mehr für Vorgesetzte. Sie kannten keine überheizten Büros, keine grauhaarigen Sekretärinnen und keine Telefone, die über Kabel mit der Wand verbunden waren. Sie kannten keine Abteilungen und deren Abteilungsleiter, keine kurzen und langen Dienstwege und auch nicht den Geruch von frisch gesaugten Teppichböden, der die Arme schwer, den Rücken krumm und die Schritte langsam machte. Sie waren selbstständig, selbstsicher, selbstsüchtig, wandelnde Selfies, zwei dauerbewegte Selbstporträts. Wenn sich Meiler die neue Generation vorstellte, sah er eine Armee von jungen Leuten mit ausgestrecktem rechtem Arm, nicht zum Führergruß, sondern um das eigene Gesicht mit dem Smartphone aufzunehmen.
Seinen eigenen Söhnen gegenüber hatte er sich niemals alt gefühlt. Friedrich und Johannes folgten ihren klassischen Biographien wie auf Schienen, und Philipp war zu weit entgleist, um für irgendetwas repräsentativ zu sein. Wenn Meiler von Berlin aus an sein Zuhause dachte, sah er eine Schwarz-Weiß-Photographie, allerdings eine, die ihm zurzeit ganz gut gefiel. Seit Neuestem wohnte Mizzie wieder zu Hause. Abends saß sie auf der Couch vor dem Fernseher, wo sie meistens bald einschlief, die Hände über dem Bauch gefaltet und den Kopf nach hinten gekippt, während Meiler im Sessel lehnte, das Handelsblatt auf den Knien, und sie ansah. Alle drei Tage kam Philipp zum Schach, und neulich hatte er sogar einmal in seinem alten Zimmer übernachtet, worüber Mizzie die halbe Nacht geweint hatte vor Glück. Einmal waren Johannes und Friedrich zu Besuch gekommen. Sie hatten zusammen gegessen, und es war ein netter Abend gewesen, bis Friedrich beim Nachtisch plötzlich begonnen hatte, sich zu beschweren. Es sei inakzeptabel, sämtliche Erlöse des geplanten Windparks in Philipps »Krankheit« fließen zu lassen. Das deutsche Erbrecht halte im Übrigen Möglichkeiten bereit, eine derartige Ungerechtigkeit nach Meilers Tod zu korrigieren. Zum ersten Mal im Leben sagte Meiler seinen Vorzeigesöhnen, dass sie ihn am Arsch lecken könnten, und er benutzte genau diese Vokabel dafür. Mizzie sah ihn erstaunt, ja bewundernd an, und irgendwie tat das gut. Beim nächsten Treffen trug Philipp nagelneue schwarze Röhrenjeans und weiße Turnschuhe und ließ ihn beim Schach gewinnen, wofür Meiler ihm Prügel androhte, und dann lachten sie gemeinsam. Im Grunde musste er Linda und Frederik dankbar sein. Seit die Windräder in sein Leben getreten waren, entwickelten sich die Dinge zum Guten, wenn auch in Schwarz-Weiß.
Meiler betrachtete Lindas helles Haar, die Jeans und grünen Turnschuhe sowie Frederiks knallrotes T-Shirt, auf dem ein Kopffüßler abgebildet war. Er fragte sich, warum er selbst im Anzug erschienen war, dabei wusste er, dass er in allen anderen Klamotten verkleidet wirkte. In Gegenwart dieser jungen Leute spürte er deutlich wie nie, dass Alter lächerlich machte. Meiler hatte immer verstanden, warum sich Kinder für ihre Eltern schämten; warum sie mit ihnen nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden wollten und an der Vorstellung, der eigene Vater könnte auf einer Party auftauchen, schier irre wurden. Alles, was ein Mensch ab 55 tun konnte – essen, tanzen, lieben, singen, vögeln oder einfach nur im Wartezimmer eines Notariats im Sessel sitzen –, war mit Peinlichkeit infiziert. Frederik und Linda hingegen konnten sich wie Idioten benehmen und verkörperten trotzdem ein Ideal, voller Stolz damit beschäftigt, einander unglücklich zu machen.