Gerhard hatte sich eine Strategie zurechtgelegt und die letzten Tage mit Ermittlungen verbracht. Er hatte Gespräche geführt, die alle um den 3. November 1991 kreisten. Natürlich wusste Gerhard, dass die Vergangenheit viele Väter und Mütter besaß. Die vergehenden Jahre hatten Legenden hervorgebracht, deren Schichten es abzuschälen galt, um an den harten Kern aus Fakten zu gelangen. Sorgfältig hatte Gerhard alle Aussagen in ihre Bestandteile zerlegt und die Informationen neu zusammengesetzt. Was herauskam, stellte die Wahrheit dar. Dann jedenfalls, wenn man aufgeklärt genug war, um »Wahrheit« als den Fall mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu betrachten.
Demnach hatte Gombrowski am fraglichen Tag einen Strohmann in den Wald geschickt, um dort mit Kron und Erik zu verhandeln. Aber es kam nicht zu einer friedlichen Einigung. Stattdessen ging der Strohmann auf seine beiden Verhandlungspartner los, einer wurde getötet, der andere schwer verletzt.
Auch vom schweren Unwetter und einem angeblich herabgestürzten Ast hatte Gerhard gehört. Er hatte sich die Mühe gemacht, die betreffende Lichtung zu besichtigen, und siehe da: Die alte Buche war völlig unverletzt. Dass sich ein Baum in zwei Jahrzehnten so makellos regenerierte, hielt er für unwahrscheinlich.Viel wahrscheinlicher war, dass der Strohmann von Anfang an mit dem Auftrag ausgestattet gewesen war, den Aufmüpfigen einen Denkzettel zu verpassen. Vermutlich hätte er seine Opfer nicht töten sollen; insoweit war die Sache anscheinend eskaliert. Jedenfalls war unter der Buche ein bis zum heutigen Tag ungesühntes Verbrechen passiert, das Unterleuten von innen heraus zersetzte.
Durch einen Abgleich der Aussagen ließ sich mit hoher Sicherheit sagen, wer der Strohmann gewesen war. Fest stand, dass sich Gombrowski im fraglichen Zeitraum nicht selbst im Wald aufgehalten hatte. Aber es gab da einen Automechaniker, der den Maschinenpark der LPG betreute und den Gombrowski in der Vergangenheit schon mehrfach als Mann fürs Grobe eingesetzt hatte. Nämlich ebenjenen Bodo Schaller, der heute auf dem Nachbargrundstück residierte und von dort aus einen Vernichtungsfeldzug gegen Gerhard und seine Familie führte.
So lautete Gerhards Ergebnis: Das Tier von nebenan war der Mörder und Gombrowski sein Anstifter und Auftraggeber.
Sämtliche Ermittlungen hatte Gerhard dokumentiert, die Aussagen seiner Gesprächspartner getippt, datiert und abgeheftet. Er wollte Schaller vor eine einfache Wahl stellen. Entweder packte er seinen Schrottplatz zusammen und suchte sich eine neue Bleibe oder Gerhard würde sein Dossier den Ermittlungsbehörden übergeben. Mord verjährte nicht.
Er sah sich um. Wie bei einem Suchbild dauerte es eine Weile, bis er Schaller inmitten von Schrott und Gerümpel entdeckte. Der Mann saß auf seiner viel zu hohen Bank, die rechte Hand hielt eine Bierdose. Zuerst glaubte Gerhard, das Tier im Schlaf überrascht zu haben. Beim Näherkommen erkannte er, dass es ihm, den Mund halb geöffnet, aus engen Augenschlitzen entgegensah.
Er hatte sich keinen Text zurechtgelegt. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass sich die richtigen Worte im entscheidenden Augenblick von selbst ergeben würden. Jetzt musste er feststellen, dass diese Annahme nicht stimmte. Fünf Schritte vor Schaller blieb er stehen und dachte, dass dieser wirklich hässlich war. Der Bauch aufgedunsen und gespannt wie eine Trommel, die Augen rot unterlaufen, die Lippen fleischig, die Arme dick wie Oberschenkel. Gerhard hoffte, der andere möge etwas sagen, aber den Gefallen tat der ihm nicht. Er saß einfach da und sah ihn an.
Als es sich gar nicht mehr vermeiden ließ, den Mund aufzumachen, sagte Gerhard:
»Das muss aufhören.«
In Schallers Gesicht regte sich nicht der kleinste Muskel, nichts wies darauf hin, ob er Gerhard überhaupt gehört hatte. Eine der Blaumeisen, die Jule so mochte, saß auf einer leeren Tonne und drehte den kleinen Kopf, um Gerhard abwechselnd aus beiden Augen anzublicken. Früher konnte Jule in Verzückung geraten, wenn sich ein Vogel im Garten derart nah an die Menschen heranwagte. Früher – als sie noch draußen gesessen hatten, um die Sonne zu genießen. Langsam begannen Schallers Kiefer zu mahlen. Gleich würde er etwas sagen. Komm schon, dachte Gerhard, gib mir ein »Verpiss dich«, damit ich wütend werden kann.
»Hat es ja«, sagte Schaller. »Aufgehört, mein ich.«
Gerhard spürte, wie ihn die Situation überforderte, obwohl gar nichts passiert war. Schaller stellte die Bierdose neben sich und rutschte von der Bank. Gemächlich ging er auf Gerhard zu. Sein Oberkörper schwankte, die Hände fassten abwechselnd in die Luft, als zöge er sich an unsichtbaren Griffen voran. Mühsam unterdrückte Gerhard das Bedürfnis, nach Hause zu rennen und am Schreibtisch nach einer Lösung zu suchen, die sich per E-Mail oder Telefon realisieren ließ. Nicht weglaufen, dachte er. Nicht am Kopf kratzen, am Hemdkragen ziehen, über die Stirn wischen. Du schwitzt, das ist kein Problem.
Plötzlich streckte Schaller die Hand aus, so ruckartig, dass Gerhard sie im Reflex ergriff. Der Händedruck war überraschend lasch und flüchtig.
»Tut mir leid«, sagte Schaller.
Fast hätte Gerhard gelacht. Er überlegte, ob das Tier intelligent genug war, um ihn auf den Arm zu nehmen. Wahrscheinlicher schien, dass Schaller von Gerhards Ermittlungen gehört hatte und ihm den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Vielleicht sollte das, was Schallers unförmigen Mund ein wenig straffte, sogar ein Lächeln sein.
»So geht das nicht«, sagte Gerhard. »Folgendes.« Er wies auf den Hof. »Sie packen hier zusammen und suchen sich eine neue Bleibe.«
Wieder verging etwas Zeit, die Schaller zu brauchen schien, um das Gesagte zu verstehen.
»Lass gut sein«, sagte er schließlich. »Ich mach keine Gombrowski-Scheiße mehr. Hab ich meiner Tochter versprochen.«
Er trat einen Schritt vor, hob eine Hand, diesmal behutsam, um Gerhard nicht zu erschrecken, und klopfte ihm auf die Schulter.
»Auf gute Nachbarschaft.«
Weil Gerhard nicht reagierte, hob Schaller schließlich die Achseln, drehte sich um und wankte zu seiner Bank zurück. In Gerhards Kopf herrschte Funkstille. Er ließ den Blick zur Grundstücksgrenze schweifen, um sich daran zu erinnern, warum er hergekommen war. Aber da war nichts. Keine Feuerstellen, keine Asche, keine Benzinkanister, keine Reste verkohlter Autoreifen. Alles sauber aufgeräumt, als wäre nie etwas geschehen. Der Graben, in dem längst eine Mauer hätte stehen sollen, zog sich sandig zwischen den beiden Grundstücken hindurch, eine eingetrocknete Wunde, hässlich, aber unschuldig. Ver-tei-di-gen, sagte Gerhard zu sich selbst, langsam und deutlich wie zu einem kleinen Kind.
»Sie verschwinden hier«, sagte Gerhard. »Es gibt jede Menge Höfe in der Gegend.«
»Magst du ein Bier?«, fragte Schaller.
Gerhard schüttelte den Kopf und trat zwei Schritte auf den sitzenden Schaller zu.
»Sie glauben, Sie können mich verarschen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich gebe Ihnen zwei Wochen. Wenn hier bis dahin nicht geräumt ist, gehe ich zur Polizei. Zur Kriminalpolizei, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Schaller taxierte ihn einen Moment, dann schüttelte er seinerseits den Kopf. Nicht ablehnend, sondern verständnislos.
»Was willst du denn? Es ist doch sowieso alles vorbei.«
»Was ist vorbei?«
»Haste nicht gehört? Gombrowski ist raus aus der Windmühlen-Geschichte.«
»Was reden Sie da?«
»Frontera hat ihn gelinkt.«
»Wer?«
»Die Pferdefrau verkauft ihm die Schiefe Kappe nicht.«
Gerhard hörte die Stimme von Linda Franzen, viel zu hart für eine junge Frau: »Ich werde nicht an Gombrowski verkaufen.«
Erst hatte er ihr geglaubt. Dann nicht mehr. Und jetzt das. Ein Sieg, der nicht seiner war, während er mit Schaller zurückblieb. Allein, ohne Mannschaft. Nicht als Kämpfer für eine gute Sache, nicht als Bollwerk gegen Gombrowskis Intrigen, sondern als Familienvater mit einem lästigen Nachbarn. Gerhard spürte, wie er zu zittern begann, erst die Hände, dann Unterarme und Ellenbogen, so dass er die Fäuste ballen und die Zähne zusammenpressen musste. Was ihn da erfasste, kannte er nicht. Es war blanker Hass.