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»Du bist ein Mörder«, brachte er hervor.

Mit einem Mal waren Schallers Augen offen und der Mund geschlossen statt umgekehrt. Anscheinend brauchte er auch keine Minute mehr, um zu erfassen, was Gerhard gesagt hatte. Er war blass geworden.

»Ich hab mit den Leuten gesprochen«, fuhr Gerhard fort. »Lange her heißt nicht vergessen. Es gibt viele, die sich erinnern können.«

Schaller schien zu warten. In Gerhards Ohren rauschte es. Der Hass floss jetzt in seine Worte.

»Da gab es diesen Tag vor nicht ganz zwanzig Jahren. Anfang November. Ziemlich schlechtes Wetter soll da gewesen sein, nach allem, was man hört.«

»Halt’s Maul«, sagte Schaller.

»Du hattest diesen hübschen Auftrag von deinem Chef. In den Wald gehen, zwei Leute treffen.«

Gerhard wusste nicht, wie der Schraubenschlüssel in seine Hand gekommen war. Er registrierte das überraschende Gewicht. Das Ding war mindestens sechzig Zentimeter lang und drei Kilo schwer.

»Hattest du so einen dabei? Oder war’s eine Eisenstange?«

»Du – sollst – ruhig – sein.« Schaller wirkte zusammengeschrumpft. Noch immer hockte er auf seiner Bank und hielt sich an den eigenen Knien fest, während seine Unterlippe zitterte.

»Dann ist die Sache ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Weißt du das noch?« Gerhard wartete. »Ich habe gefragt, ob du das noch weißt!«

»Du darfst nicht davon sprechen!« Schaller schrie wie ein Kind, das gleich zu weinen beginnt. »Niemand darf das!«

»Und ob ich davon sprechen werde. Nicht nur mit dir, sondern auch mit der Polizei. Du bist ein Mörder.«

Schaller hatte zu zittern begonnen.

»Willst du es noch mal hören? Mörder!«

Als das Tier aufsprang, hob Gerhard den Schraubenschlüssel. Aber Schaller griff nicht an, sondern verschwand hinter der verfallenen Scheune. Als er Sekunden später wieder auftauchte, hingen an jedem Arm zwei Autoreifen, die er über den Hof zur Grundstücksgrenze schleppte und dort fallen ließ. Noch einmal rannte er davon und kehrte mit einem Benzinkanister zurück. Als er an Gerhard vorbeiwollte, fuhr der Schraubenschlüssel durch die Luft. Schaller gab keinen Ton von sich. Er kippte zur Seite, schlug hart auf den Boden, rollte einmal herum und hielt sich das Bein. Gerhard vermutete, dass er ihn am Knie getroffen hatte. Er holte ein zweites Mal aus. Er sah die Schmerzen des anderen, konnte sie aber nicht fühlen.

»Mit wem hast du angefangen? Mit Kron?«

Der Schraubenschlüssel fuhr herab.

»Hast du ihn aufs Bein geschlagen? So vielleicht?«

Schaller antwortete nicht, er schaute Gerhard nicht an, es sah aus, als versuchte er, in den Boden zu beißen. Auch der nächste Schlag traf Schallers Bein; eventuell auch einige Finger der Hände, die das Bein hielten.

»Pack deine Sachen«, keuchte Gerhard. »Verschwinde von hier.«

Schaller schrie nicht, obwohl er den Mund weit aufgerissen und die Augen zusammengekniffen hatte und auch sonst aussah wie ein Mensch, der vor Schmerzen brüllt. Oder vielleicht hörte Gerhard nichts mehr. Sein Verstand hatte sich vom Körper getrennt, stand ein wenig abseits und beschäftigte sich mit einer interessanten Erkenntnis. Er hatte gerade eins der großen Rätsel der Menschheit gelöst, nämlich die Frage, warum es so viel Gewalt auf der Welt gab. Die Antwort lautete: Weil Gewalt verdammt einfach war.

Arme und Beine arbeiteten weiter, ganz von selbst, sie benötigten keine weiteren Anweisungen. Der Schraubenschlüssel war zu Boden gefallen, Gerhard trat jetzt mit den Füßen auf Schaller ein. Wut fühlte er nicht mehr; auch der Hass war verflogen. Er war einfach ein Mann, der eine Arbeit verrichtete. Er dachte an Jule, die mit Sophie auf den Armen panisch im Wohnzimmer hin und her lief. Dann dachte er gar nichts mehr. Ver-tei-di-gen, skandierte eine Stimme in seinem Kopf. Die Füße zielten auf Schallers Nieren, auf Schallers Wirbelsäule. Noch ein paarmal mit voller Wucht, dann war es genug. Gerhard fand den weggeworfenen Schraubenschlüssel, legte ihn ordentlich auf die Bank und verließ den Hof.

Auf dem kurzen Weg zurück nach Hause machte sich wunderbare Entspannung in ihm breit. Schaller würde verschwinden, Gombrowskis Windmühlen waren ausgebremst. Ab heute würde es anständig zugehen im Dorf, friedlich und zivilisiert, dafür würde Gerhard schon sorgen. Er hatte bereits drei Jahre in Unterleuten verbracht, er hatte ein Haus saniert, Himbeerhecken gepflanzt und ein Kind gezeugt. Aber erst jetzt war er richtig angekommen. Als er durchs Gartentor auf das Haus zuging, schlug die Stunde null seiner neuen Existenz.

55 Wachs

Frederik glaubte nicht, dass es zwischen Mann und Frau ums Gewinnen ging. Er war in den Neunzigern groß geworden, einem Jahrzehnt, von dem Linda sagte, dass es nur turnschuhweiche Männer hervorgebracht habe. Eine ganze Generation von mehr oder minder männlichen Wesen, die mit dem Begriff »erwachsen« nichts anfangen konnten. Im Grunde gab Frederik ihr recht; aus seiner Sicht passte »erwachsen« immer nur auf andere. Er war 27 Jahre alt, besaß Job, Freundin, Auto, mittlerweile sogar ein Haus und eine ganze Reihe Bäume, wenn auch nicht selbst gepflanzt. Trotzdem fühlte er sich nicht anders als jener Achtzehnjährige, der mit Wochenendticket und kleinem Bruder zur Loveparade nach Berlin gepilgert war. Im Wesentlichen sah er auch noch so aus. »Mann« war ein Wort, das an Frederik schlecht haften blieb. Wenn Timo, Ronny und er von sich selbst sprachen, benutzten sie »Männer« höchstens im ironischen Sinn. Richtig lautete die Form in der Einzahl »Typ«, in der Mehrzahl »Jungs«. Auch wenn sie Firmen, Häuser oder Bäume besaßen.

Lindas Diagnose war definitiv als Vorwurf gemeint. Trotzdem hatte sich Frederik nie daran gestört, weich wie ein Turnschuh zu sein. Immerhin würde er niemals seiner Frau eine reinhauen oder das Familieneinkommen für Motorräder und Nutten ausgeben. Statt viel Zeit und Kraft mit der Darstellung von Erwachsen-Sein oder Männlichkeit zu vergeuden, konnte er seine Energie in sinnvollere Dinge investieren.

Zum Beispiel in die Entwicklung eines digitalen Naturschutzgebiets. Seit ihm vor zehn Tagen die Idee zu Traktoria nature gekommen war, hatte er sich quasi unaufhörlich damit beschäftigt. Während er Linda beim Renovieren half, formulierte er im Kopf ein Designdokument, dachte über Spielmechanik, Architektur, Zielgruppe, Alleinstellungsmerkmale und Entwicklungszeiträume nach und überschlug schon einmal die Kosten. Nachts saß er am Computer und entwarf Prototypen. In den ersten Kampfläufer war er geradezu verliebt. Vielleicht ähnelte der Vogel ein wenig Timos Strauß – das eine Auge war kleiner als das andere, was ihm einen drolligen Gesichtsausdruck verlieh. Aber Kopfschmuck und Balzkragen, der einer spanischen Halskrause aus der Tudor-Zeit nachempfunden war, machten den Kampfläufer zu einem echten Individuum. Anders als Nutztiere, die in Traktoria ausschließlich in Gehegen oder Ställen gehalten wurden, liefen die Wildtiere in Traktoria nature frei herum. Frederiks genialster Einfall bestand darin, dass sich der Fruchtbarkeits-Koeffizient der Kampfläufer nicht nur durch Füttern und Pflege, sondern auch durch reine Beobachtung erhöhen ließ. Wenn ein Spieler viel Zeit auf der nature-Seite verbrachte, begannen die Vögel irgendwann mit dem Balzen und sorgten für Nachwuchs. Mit dem Anwachsen der Population stiegen die Subventionen für das Naturschutzgebiet, so dass sich häufige Besuche auf der Seite in barer Spielmünze auszahlten.

Er hatte Linda auf dem Weg zur Notarin vom Stand seines nature-Konzepts erzählt, und sie hatte zurückgefragt, wann er es Timo und Ronny vorstellen würde. Die Frage hatte sarkastisch geklungen und nicht nach einer Antwort verlangt. Die glaubte Linda selbst zu kennen: niemals. Er würde sich bis zum Ende aller Tage mit seiner Idee beschäftigen, weil er Angst hatte, bei seinem kleinen Bruder durchzufallen. Turnschuh eben. Linda war definitiv auf Krawall gebürstet gewesen, und Frederik hatte gewusst, warum. Sie versuchte schon im Auto, ihn zur Schnecke zu machen, damit er beim bevorstehenden Termin mit Meiler nicht aufmuckte.