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Schwer zu glauben, wie dünn besiedelt die Gegend war. Die Anzeichen menschlicher Zivilisation waren so selten, dass jeder Strommast auffiel. Ein paar Schilder am Straßenrand: Ferienwohnungen, Kleintransporte, Fußpflege, Hundetraining. Ein Sportflughafen, ein paar Kühe, Maisfelder, in einiger Entfernung die Förderbänder eines Kieswerks. Nirgendwo eine Menschenseele. Hin und wieder drängten sich am Straßenrand ein paar Häuser zusammen, die von Ortsschildern zu Dörfern erhoben wurden. Die Namen klangen wie aus einem surrealen Film, Wassersuppe, Regenmantel, Seelenheil. Auf dem Dach einer Scheune thronte ein Storchennest, groß wie ein Traktorreifen. Meiler bremste für eine Katze und fuhr Schrittgeschwindigkeit hinter drei Ponys, die mit ihren jugendlichen Reiterinnen mitten auf der Straße trotteten. Ihm kam das alles wie ein Paralleluniversum vor. Ein No-man’s-Disneyland. Ein Freilichtmuseum preußischen Versagens beim Versuch der Wiederaufsiedlung wüst gefallener Ländereien. Friedrich der Große würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie das Ergebnis seiner aufwändigen Siedlungspolitik aussah, samt Sumpftrockenlegung und Dorfneubau: drei zwölfjährige Mädchen auf Ponys in einer ansonsten völlig ausgestorbenen Landschaft.

Der Sänger im Radio war zum nächsten Lied übergegangen.

»Du fragst mich, was vor Armut schützt / Die Antwort lautet: Grundbesitz!«

Noch einmal lachte Meiler; anscheinend lief das Liederprogramm nur für ihn.

Ein Stück voraus standen mehrere Autos am Straßenrand. Erst dachte Meiler an einen Unfall, aber als die Ponys und er langsam näher kamen, sah er Menschen unverletzt herumlaufen, auch die Autos schienen unbeschädigt. Mehrere Männer bauten Stative auf. Für eine Polizeikontrolle war das Ganze allerdings zu auffällig. Die Mädchen dirigierten ihre Ponys an den Straßenrand, beschirmten die Augen mit den Händen und schauten aufs Feld hinaus. Während Meiler den Roadster an der Gruppe vorbeizwängte, erkannte er, dass die Männer Kameras mit langen Teleobjektiven auf die Stative schraubten; die Frauen standen daneben und hoben Ferngläser an die Augen. Sosehr er sich auch anstrengte, auf der weitläufigen Wiese etwas Sehenswertes zu entdecken – außer einer Gruppe grau gesprenkelter Vögel in hundert Metern Entfernung gab es nichts zu sehen. Meiler dachte, dass die Wiese, auf die hier alle starrten, möglicherweise ihm gehörte.

Zu keinem Zeitpunkt im Leben hatte er den Wunsch verspürt, Land zu erwerben. Aber seit es geschehen war, fühlte er sich anders. Besser. Er war Großgrundbesitzer. Die Adligen mochten in Deutschland zum Marionettentheater der Boulevardpresse verkommen sein; für ihre Methoden galt das nicht.

Mizzie hatte ihn für verrückt erklärt, als sie endlich ans Handy gegangen war und er ihr von seinem Coup erzählen konnte. Seit sie wegen Philipp die Wohnung in München gemietet hatte, war sie schwerer zu erreichen als ein Topmanager. Wenn er versuchte, sich vorzustellen, womit sie beschäftigt war, sah er schreckliche Bilder. Mizzie, wie sie eine Thermoskanne Tee, Käsebrote und frische Herrenunterwäsche in einen Rucksack packte. Mizzie, die mit uniformierten Mitarbeitern der Bahnhofsmission sprach. Mizzie, die in den Gängen einer U-Bahn-Station die Reihen von am Boden liegenden Menschenbündeln abschritt, immer wieder anhielt, sich hinunterbeugte und ein schmutziges Stück Stoff beiseiteschlug, um einem von ihnen ins Gesicht zu sehen.

Hartnäckig rief Meiler bei ihr an, um von den Ereignissen in seinem Leben zu erzählen, auch wenn er nicht wusste, ob sie das noch interessierte. Sie hörte schweigend zu, während er von der Versteigerung berichtete, und fragte anschließend, ob er den Verstand verloren habe. Noch einmal hatte Meiler seine Argumente wiederholt. Staatsanleihen können absaufen. Börsenkurse fallen. Vermögen von der Inflation gefressen werden. Mizzie blieb bei ihrer Gegenfrage: »Was zur Hölle willst du mit der halben DDR?«

Zwei Monate später meldete Lehman Brothers Konkurs an. Immobilienfonds wie jene, aus denen Meiler sich zurückgezogen hatte, um die Anschaffung seiner neuen Ländereien zu finanzieren, waren plötzlich keinen Pfifferling mehr wert.

Mit seinem Stück Ex-DDR musste Meiler nichts wollen. Er konnte es sich leisten zu warten. Auf Bebauungspläne, die neue Flächen als Bauland auswiesen. Auf eine Supermarktkette, die Land brauchte, um in der Nähe von Unterleuten eine Filiale zu eröffnen. Auf die Ausdehnung des Berliner Speckgürtels. Auf Umgehungsstraßen, Outlet-Center oder die große Energiekrise, die den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen unverzichtbar machen würde. Und solange er wartete, war Konrad Meiler sein eigenes Spekulationsgeschäft.

Am besten gefiel ihm, dass sich sein neues Investitionsmodell als System mit positiver Rückkopplung entpuppte. Ein berühmter Kunstsammler konnte den Wert eines Künstlers dadurch steigern, dass er dessen Werke kaufte und in seine Sammlung aufnahm. Mit Land verhielt es sich ähnlich. Als Meiler nach dem Zuschlag an der Seite von Gottfried Wanka das Gebäude verlassen hatte, in dem die Versteigerungen stattfanden, war er dem Krückenmann wiederbegegnet, der vor dem Eingang auf ihn wartete und offensichtlich noch etwas zu sagen hatte.

»Ist dir eigentlich klar«, sagte der Kerl, »dass Heuschrecken wie du die Bodenpreise ruinieren? Und dass es Leute gibt, die dafür bitter bezahlen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, spuckte er Meiler vor die Füße und humpelte davon.

Wanka klärte Meiler darüber auf, dass er soeben einen vergleichsweise astronomischen Preis für seine 250 Hektar bezahlt hatte. In Plausitz gab es einen Gutachterausschuss, der den Bodenrichtwert auf Grundlage der im vergangenen Jahr getätigten Transaktionen neu festsetzte. Größere Geschäfte besaßen folglich erheblichen Einfluss auf die Berechnungen, so dass Meiler, indem er teuer kaufte, den Wert des Gekauften in die Höhe trieb. Wie er inzwischen wusste, liefen auch die viel zu billigen Pachtverträge nach und nach aus, so dass bei Neuabschlüssen die Preise angehoben werden konnten. Er stand bereits mit Rudolf Gombrowski in Verhandlung, der auf 900 Hektar in der Region Unterleuten Öko-Weizen und Bio-Milch produzierte und auf einige von Meilers Flächen dringend angewiesen war. Die angepassten Pachtpreise würden erstens eine Rendite von bis zu vier Prozent sichern, was angesichts der aktuellen Situation nicht übel war, und zweitens wiederum wertsteigernden Einfluss auf den Bodenrichtwert nehmen. Meiler mochte gut geölte Maschinen, und diese hier lief dermaßen rund, dass er lächeln musste, wenn er nur daran dachte.

Nachdem er es endlich geschafft hatte, an den Ponys vorbeizukommen, genoss er es, wie ihn die Beschleunigung des Roadsters in den Sitz drückte. Beim zweiten Telefonat hatte Franzen ihn gefragt, ob er Pferde möge. Er hatte erwidert, dass er sich nicht die Bohne für Tiere interessiere. Seine Arbeit habe ihn gelehrt, dass schon die Dressur von Menschen genügend Probleme aufwerfe. Reiten sei ein Sport, bei dem er selbst während der Olympiade umschalte. Außerdem flößten ihm die großen Tiere Respekt ein.

»Wenn Männer Respekt sagen, meinen sie Angst«, hatte Linda Franzen geantwortet.

»Touché!«, hatte Meiler gesagt, obwohl er Männer, die »Touché!« sagten, für schwul hielt.

Es stellte sich heraus, dass Franzen ihren Lebensunterhalt mit Pferden verdiente.

»Sie glauben gar nicht, wie viele Pferdebesitzer keine Ahnung haben, wie man mit diesen Tieren umgeht. Das ist so, als würde jemand, der Kupplung und Bremse nicht unterscheiden kann, einen Formel-1-Wagen kaufen.«

»Die Leute besitzen Pferde und können nicht reiten?«

»Reiten vielleicht schon. Aber in der Pferdesprache sind sie komplette Legastheniker.«

»Und Sie bringen den Menschen Pferdisch bei.«

Er hatte das als Witz gemeint, aber Linda Franzen reagierte in vollem Ernst. Sie hielt ihm einen Vortrag, der mit den Worten »Pferdesprache ist Körpersprache« begann. Als Herden- und Fluchttiere besäßen Pferde eine feine Wahrnehmung für die kleinsten physischen Signale. Unablässig läsen sie in der Körperhaltung des Menschen, deuteten seine Gesten, stellten Spannungsgrade fest, interpretierten Bewegungsmuster, um herauszufinden, wen sie vor sich hätten, Freund oder Feind. Da sich die meisten Menschen ihres eigenen Körpers überhaupt nicht bewusst seien, sendeten sie einen pantomimischen Kauderwelsch aus, der das Pferd permanent verwirre. Und wer verwirrt sei, gerate leicht in Panik.