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Der Streit hatte sich bis ins Wartezimmer der Notarin fortgesetzt. So wie sie sich aufführte, hätte jeder normale Mann ihr einen Vogel gezeigt und den Notartermin platzen lassen. Frederik aber hatte die Demütigung heruntergeschluckt und die Verträge unterschrieben. Das war ihm nur möglich, weil es ihm nicht auf Sieg oder Niederlage ankam. Wie so oft hatte Linda von seinem Turnschuhträgertum profitiert, was sie auch in Zukunft nicht davon abhalten würde, ihn genau deswegen zu kritisieren. Sie dachte immer nur bis zum nächsten Vorwurf. So überzeugt war sie von der Existenz eines Optimalzustands, dass sie überall nur Defizite sah, sogar dann, wenn sie gewann.

Meiler hatte das Flurstück auf der Schiefen Kappe bekommen, das er für die Errichtung des Windparks brauchte. Im Gegenzug erhielten Linda und Frederik 50000 Euro sowie vier Hektar bestes Weideland direkt hinterm Haus. Was sie unverlangt dazu erhielten, war der Hass des gesamten Dorfs. Egal ob die Leute zu Gombrowski hielten oder das Windkraftprojekt verhindern wollten – mit dem Verkauf an Meiler gelang es Linda, alle gleichzeitig vor den Kopf zu stoßen.

Jetzt saß Frederik allein im Auto und steuerte den Frontera durch den dichten Verkehr auf dem Kaiserdamm. Seinen Plan hatte er entwickelt, während die Notarin den Vertragsinhalt herunterleierte. Wenn Linda unbedingt dem ganzen Dorf den Krieg erklären wollte, dann musste er das Dorf davon abhalten, die Kriegserklärung anzunehmen. Im Westend fuhr er auf die A100 in Richtung Hamburg.

Sein Leben lang hatte Frederik das Gefühl, dem Lauf der Dinge hinterherzuhinken. Als Nachtmensch begann er meist erst mit der Arbeit, wenn andere schon aus der Mittagspause kamen. Auf frühes Aufstehen reagierte er mit Jetlag. Zu Verabredungen kam er zu spät, weil ihm immer noch eine Kleinigkeit einfiel, die dringend erledigt werden musste, bevor er das Haus verließ. Grundsätzlich hatte er nichts dagegen, dem Leben einen kleinen Vorsprung zu lassen; nicht selten sah man von hinten besser, wie der Hase lief. In diesem Fall aber konnte er nicht abwarten, was passierte. Er musste sich nur Gombrowskis Physiognomie vor Augen rufen, die gedrungenen Schultern und tellergroßen Pranken, dazu das fleischige Gesicht mit den Tränensäcken und Lefzen einer alten Dogge, und schon wusste er, dass er handeln musste, und zwar sofort.

Frederik erreichte die A 111, beschleunigte auf 140 km/h und setzte den Frontera auf die linke Spur, um nicht ständig wegen dänischer Touristen und polnischer Lastwagen ausscheren zu müssen. Er fuhr schneller als gewöhnlich. Es war völlig klar, dass sich Linda nicht an die Anweisung halten würde, ein paar Tage bei Timo in Berlin zu verbringen. Aber selbst wenn sie versuchte, so schnell wie möglich nach Unterleuten zurückzukehren, würde sie die Regionalbahn um 14:27 Uhr nicht mehr erreichen, und der nächste Zug nach Plausitz ging erst zwei Stunden später. Das gab ihm drei Stunden Vorsprung – nicht viel, aber vielleicht ausreichend, wenn er sich beeilte. Er wollte in Unterleuten den wichtigsten Akteuren einen Besuch abstatten, Gombrowski, Kron, Bürgermeister und Vogelschützer, dazu Oma Rüdiger, die zuverlässig dafür sorgen würde, dass sich die Nachricht im ganzen Dorf verbreitete. Seine Botschaft lautete: Ich habe die Schiefe Kappe an Konrad Meiler verkauft. Er würde so tun, als wollte er um Verständnis werben, in Wahrheit aber ging es darum, sich selbst als den Drahtzieher im Hintergrund zu präsentieren. Es sollte so aussehen, als wäre die Idee, Gombrowski und Meiler gegeneinander auszuspielen, auf seinem Mist gewachsen, während Linda nur ausführendes Organ gewesen sei. Frederik war sicher, dass man ihm glauben würde. Jenseits der Turnschuhgeneration erschien es nur logisch, dass ein Mann hinter einem solchen Geschäftsabschluss steckte. Die Aggression der Dörfler würde er gelassen ertragen. Im Zweifel blieb er eine Weile in Berlin.

Die Lkw auf der rechten Spur bildeten mittlerweile eine geschlossene Phalanx und versperrten die Sicht. Um ein Haar hätte Frederik die richtige Ausfahrt verpasst, er fuhr zu selten mit dem Auto nach Unterleuten, um die Strecke auswendig zu kennen. Er bremste abrupt und zog den Geländewagen zwischen zwei Lastwagen nach rechts. Hinter ihm wurde gehupt.

Sosehr er bereit war, brettflache Sandböden, eintönige Kiefernwälder und verfallende Gründerzeitarchitektur romantisch zu finden – Plausitz war von einer speziellen ostdeutschen Trostlosigkeit, die jedem fühlenden Menschen aufs Gemüt schlagen musste. Nach der Autobahnausfahrt passierte die Landstraße noch drei typische Dörfer, jeweils fünfzig Häuser mit Zigarettenautomat, Briefkasten und Sandstreifen am Straßenrand, auf dem die Autos parkten. Ringsum lagen ausgedehnte Weiden, auf denen sich Galloway-Rinder langweilten. Danach, im ersten Dunstkreis von Plausitz, verwandelte sich die Gegend in eine Rumpelkammer der Zivilisation. Kläranlage, Umspannwerk, Gewerbegebiet, Tankstellen, die Schallschutzwände der ICE-Trasse und die Lagerhallen einer Spedition verbanden sich zu einer Anti-Landschaft von frustrierender Beliebigkeit. Radwege nahmen die Landstraße in den Schwitzkasten, Kreisverkehre belästigten die Kreuzungen, an den Laternen hingen Hinweisschilder auf den Plausitzer McDonald’s. Zuletzt musste Frederik noch an Shopping-Malls und Designer-Outlets vorbei, die die Stadt umgaben wie ein feindlicher Belagerungsring. Der kürzeste Weg nach Unterleuten führte direkt durch die Plausitzer Innenstadt.

Im Zentrum befanden sich all jene Institutionen, deren Aufgabe es war, das Leben der Menschen unangenehm zu machen – Bauamt, Arbeitsamt, Naturschutzbehörde, Amtsgericht, Polizei, Post, Kfz-Zulassungsstelle. Selbst bei gutem Wetter sah die Stadt nach Regen aus. Am bedrückendsten fand Frederik den quadratischen, mit Betonpflaster ausgelegten Ernst-Thälmann-Platz, der von flachen Plattenbauten umgeben war. Vor einer Reihe schäbiger Boutiquen standen Drehständer, an denen dünne Blusen in schreienden Farben wehten. Dreimal am Tag, stellte Frederik sich vor, verließen die Plausitzer ihre heruntergekommenen Wohnblocks, um jeden Ständer auf dem Ernst-Thälmann-Platz einmal langsam um die eigene Achse zu drehen. Viel mehr gab es nicht zu tun. Die Jugendlichen drängten sich im Wartehäuschen der Bushaltestelle zusammen und rauchten.

Auf der anderen Seite der Stadt wartete die finale Katastrophe: der Windpark auf der Plausitzer Platte. Das Ausmaß des ästhetischen Verbrechens verblüffte Frederik immer wieder aufs Neue. Links und rechts der Straße drehten sich Hunderte gewaltiger Rotoren. Bei Nacht tauchten die Gefahrfeuer an den Spitzen der Türme die Szenerie in gespenstisch blinkendes Licht. Das nicht ganz synchrone Pulsieren erzeugte einen hypnotischen Sog, der dafür gemacht schien, Autofahrer von der Straße zu ziehen. Bei Tag fuhr man in gefühlter Zeitlupe in das langsame Kreisen der Propeller hinein, ein zähes Anrennen gegen Windmühlen als Symbol für die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens. Stets waren zwei oder drei der Kraftwerke außer Betrieb, standen reglos zwischen den arbeitenden Kollegen und hielten die Gesichter abgewandt, als schämten sie sich ihres Versagens.

Frederik spürte, wie der Anblick der stur bewegten Maschinen seine Magennerven angriff. Dies waren die Wächter des trostlosen Plausitz, eine Armee, die im Begriff stand, ihre Vorhut weiter ins Land auszusenden, und ausgerechnet Linda hatte dafür gesorgt, dass ein paar davon demnächst von der Schiefen Kappe auf Unterleuten herunterschauen würden.

Aber was, dachte Frederik, zählt meine Abscheu vor Windrädern gegenüber den Bedürfnissen eines Pferdes.

Er atmete auf, als die Landstraße den Windpark endlich hinter sich ließ. Auf den letzten zwanzig Kilometern bis Unterleuten gab es nur noch Wald und ein paar Felder, auf denen sich im Frühjahr Tausende von Kranichen sammelten.