Die Strecke war so wenig befahren, dass es auffiel, wenn man jemanden hinter sich hatte. Auf der schmalen Straße hielt man entweder Abstand oder überholte, sobald es möglich war. Der Wagen im Rückspiegel aber fuhr dicht auf und machte nicht einmal Anstalten zu überholen, als Frederik auf die Bremse trat und den Blinker rechts setzte. Es war ein staubiger, verbeulter Kastenwagen in Weiß, eins der typischen Handwerkerautos, die in der Gegend zahlreich herumfuhren. Frederik war sicher, dass mindestens ein solches Modell auch in Unterleuten stand. Er versuchte, den Fahrer zu erkennen, sah aber nur Brille und Hut und einen hochgeschlagenen Hemdkragen. Als ihn ein mulmiges Gefühl beschlich, versuchte er, über sich selbst zu lachen: Nur weil ich Paranoia habe, heißt das noch lange nicht, dass man mich nicht verfolgt. Er achtete darauf, die Spur zu halten und das Tempo nicht zu erhöhen. Irgendein Betrunkener auf dem Weg nach Hause, dachte er. Kein Grund, nervös zu werden.
Als er in den Wald einfuhr, begann die Sonne wie ein Stroboskop zwischen den Bäumen zu blinken. Lichtmünzen flitzten über die Armatur. Frederik hörte auf, ständig in den Rückspiegel zu schauen, und dachte stattdessen noch ein bisschen an Traktoria nature. In einem Aufwallen von Übermut schloss er einen Vertrag mit sich selbst: Wenn in Unterleuten alles glattging, würde er morgen in der Firma anrufen und Timo um einen offiziellen Gesprächstermin bitten, in Anwesenheit von Ronny und den wichtigsten Entwicklern. Schließlich gab es nichts, wovor er Angst haben musste. Als er wieder in den Rückspiegel sah, war der Kastenwagen bis auf Armeslänge herangekommen.
Die Straße schwang sich in sanftem Bogen nach rechts, bevor sie in die scharfe Linkskurve ging, in der Linda so gern ihre Zweitbegabung als Rennfahrerin demonstrierte. Um der Ideallinie zu folgen, zog sie den Wagen kurz vor dem Scheitelpunkt auf die Gegenfahrbahn. Frederik war sicher, dass der wichtigste Reiz dieses Spiels darin bestand, sich an seinem Entsetzen zu freuen. Vermutlich bildete sie sich ein, dass niemand außer ihr in der Lage sei, die Kurve auf diese Weise zu nehmen.
Der Fahrer des Kastenwagens betätigte die Lichthupe. Plötzlich hatte Frederik Lust, dem Vollidioten zu zeigen, wo der Hammer hängt. Er war in seiner Jugend lang genug Formel 1 am Computer gefahren, um zu wissen, wie man einen Linksknick behandelte. Außen anbremsen, spät einlenken, am Apex innen halten und die ganze Fahrbahnbreite nutzen, um den von Neuem beschleunigten Wagen heraustragen zu lassen.
Frederik hatte das Anbremsen hinter sich und stand im Begriff, den Frontera nach links zu ziehen, als die Zeit stehen blieb. Er sah die Situation in vollständiger Klarheit. Er verstand nicht nur, was passierte, sondern auch, was es zu bedeuten hatte.
Ein Traktor kam ihm entgegen, auffällig langsam, als hätte er hinter der Kurve gewartet, und nutzte die ganze Fahrbahnbreite. Hinter Frederik fuhr der Kastenwagen, so dicht, dass eine Vollbremsung lebensgefährlich gewesen wäre.
In diesem Augenblick erkannte Frederik den Fehler seines Plans. Unterleuten wusste längst Bescheid. Linda hatte Gombrowski bereits vor einigen Tagen darüber informiert, dass er die Schiefe Kappe nicht bekommen würde. Wenn der alte Hund zwei und zwei zusammenzählen konnte, war er selbst darauf gekommen, dass sie die Haut des Bären zweimal verkauft hatte. Sie hatte sogar die Frechheit besessen, den von Gombrowski reservierten Notartermin für das Geschäft mit Meiler umzubuchen. Folglich wusste Gombrowski sogar, an welchem Tag und zu welcher Stunde er ausgebootet wurde. Und wann Linda mit dem Auto von ihrem faulen Geschäft zurückkam.
Die Heckscheibe des Frontera war dunkel getönt, und auf der Windschutzscheibe stand die Sonne. Weder der Fahrer des Kastenwagens noch der des Traktors konnten sehen, wer den Frontera fuhr. Frederik saß auf Lindas Platz und schnitt die Kurve auf Lindas Art.
Wenn das ein Anschlag ist, dachte Frederik, dann gilt er Linda, nicht mir.
Ich wollte sie aus der Schusslinie nehmen, dachte er. Mich vor sie stellen, damit der Hass des Dorfs sie nicht trifft.
Das klappt ja noch besser als geplant.
Er spürte den Wunsch zu lachen. Dann lief die Zeit weiter. Es wurde eng. Frederik riss das Steuer nach rechts.
56 Fließ-Weiland
Den großen Rucksack mit den aufgedruckten Wolken hatte sie schon besessen, als sie von zu Hause ausgezogen war. Er hatte sie in den aufregendsten Zeiten ihres Lebens begleitet: ins Berliner Studentenwohnheim, beim Umzug in die erste WG, während eines Praktikums bei der Obdachlosenhilfe in New York, wo sie aufgrund akuten Geldmangels nicht wesentlich besser lebte als die meisten Obdachlosen. Auf einer Reise durch Japan, die sie lehrte, dass die Japaner mit der Kultur des Auto-Stopps nicht vertraut waren.
Sie erinnerte sich genau an das Gefühl, ihr Haus wie eine Schnecke auf dem Rücken zu tragen. Über Jahre hinweg hatte sie eine besondere Form von Selbstbewusstsein daraus gezogen, ihre wichtigsten Habseligkeiten binnen einer halben Stunde in einem einzigen Gepäckstück verstauen zu können. Dann kamen Mann, Haus und Kind, begleitet vom entsprechenden Zubehör. Einbauschrank und Esstisch, Weinregal und Wickelkommode, Gartenmöbel, Streusalz, Einmachgläser, Teppiche und angebrochene Packungen mit Meisenknödeln, kurz, eine wachsende Sammlung von Gegenständen, die behaupteten, ihr Leben zu sein. Schon vor Sophies Geburt hatte Jule beschlossen, Studieren und Reisen als zusammenhängende Phänomene zu betrachten, die nun beendet waren, und hatte beides zu den Erinnerungen sortiert. Den verschlissenen Rucksack hatte sie aufgehoben, weil man so ein treues Ding unmöglich wegwerfen konnte. Das hässliche Muster hatte sie auf dem Gepäckband am Flughafen immer schon von Weitem zwischen allen anderen Taschen erkannt.
Jetzt lag der Rucksack vor ihr auf dem Küchentisch und ähnelte mit offenen Reißverschlüssen und klaffenden Fächern einer Leiche bei der Obduktion. Seltsamerweise musste Jule keine Sekunde überlegen, was sie mitnehmen wollte. Es war, als verwandelte das Packen sie automatisch in ihr früheres Ich zurück. Wie von selbst gab das Haus aus der Mitte seiner gefüllten Zimmer all jene Dinge frei, die zu Jules Studentenzeit gehörten. Eine Jeans mit Loch am Knie, die inzwischen ein bisschen zu weit war, aber auch mit Gürtel gut aussah. Eine abgegriffene Taschenbuchausgabe von »Ulysses«, die man an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und immer wieder glauben konnte, dass man zum ersten Mal darin lese. Eine kleine Stoffkatze, die so intensiv nach Jule roch, dass sie nur die Nase darin vergraben musste, um sich auf jeder Bahnhofsbank wie im eigenen Bett zu fühlen. Da sie für ihr aktuelles Vorhaben weder Badesachen noch Steckdosenadapter oder Reiseapotheke brauchte, blieb genug Platz für die neu hinzugekommenen Gegenstände: Sophies Fläschchen, Sophies Strampelanzüge, Sophies Schnuller, Rassel und Schmusedecke.
Je mehr sich der Rucksack füllte, desto selbstverständlicher schien das Packen. Plötzlich fühlte sich Jule wie ein Gast, der schon zu lange an einem Ort geblieben ist und dringend sehen muss, dass er weiterkommt. Sie fragte sich, ob sie vielleicht unter Schock stand. Konnte es wirklich sein, dass sich Mann und Haus so leicht abstreifen ließen?
Weil Gerhard und sie beim Umzug nach Unterleuten beschlossen hatten, einen echten Neuanfang zu machen, statt zwei gealterte Studentenhaushalte zu einer Sperrmüllhalde zu vereinen, hatte Jule jedes einzelne Möbelstück, jeden Vorhang, jede Blumenvase und jeden Untersetzer im neuen Heim selbst ausgesucht. Nach und nach hatten sie die DDR-Atmosphäre vertrieben, hatten Linoleumboden und Phototapete gegen Parkett und weiß gestrichene Wände getauscht und das alte Gemäuer in ein modernes und gemütliches Zuhause verwandelt. Unter den Blicken der Nachbarn hatte Jule den Garten gerodet, Gras gesät, Wege angelegt und Himbeeren gepflanzt. In allem, was sie hier umgab, steckten Arbeit und Herzblut. Trotzdem stellte sich plötzlich heraus, dass außer Sophie und ein paar alten Klamotten nichts richtig zu ihr gehörte.