Sie hatte Sanne angerufen. Zufällig hatte sie ihre Freundin, die als freie Journalistin ständig beschäftigt war, ohne etwas zu verdienen, gleich beim ersten Versuch auf dem Handy erreicht. Sanne saß mit Laptop und Milchkaffee vor einem Café in Kreuzberg, konnte wegen der Sonne so gut wie nichts auf dem Bildschirm erkennen und ging deshalb ans Telefon, statt weiter so zu tun, als schreibe sie einen Beitrag für die Sonntags-TAZ. Jule verzichtete auf Smalltalk und fragte gleich, ob sie mit Sophie vorübergehend bei Sanne einziehen könne.
»Streit mit Gerhard?«, fragte die Freundin.
»Wie man’s nimmt«, sagte Jule. »Er hat einen Nachbarn krankenhausreif geschlagen.«
»Ach so«, sagte Sanne. »Komm vorbei.«
Dieses »Ach so« hatte bei Jule die Innenbeleuchtung angeschaltet. Mit einem Mal sah sie glasklar, worum es hier ging: Sie kehrte nach Hause zurück. Als sie Gerhard kennenlernte, hatte Jules Welt aus Menschen wie Sanne bestanden, die ihren freundlichen Fatalismus als Überlebensstrategie betrieben und in der Lage waren, sogar die Ironie ironisch zu meinen. Für Gerhard hingegen war ständig irgendetwas »unfassbar« und er selbst dabei »fassungslos«. Er betrachtete Betroffenheit als erste Bürgerpflicht, ganz egal, ob sich das Unfassliche gerade in Afrika oder im Nachbargarten abspielte. Jule hatte es gefallen, wie hitzig er am Kneipentisch über globale Ungerechtigkeit sprechen konnte. Er kannte die Feinde der Menschheit – Banken, Ölfirmen, Waffenlieferanten und die mit ihnen kollaborierenden Politiker – und sagte »die Wirtschaft«, »die Medien« und »die Politik«, als wüsste er genau, was er damit meinte. In seiner leidenschaftlichen Aufgeregtheit erschien er Jule sehr jung, während der abgeklärte Skeptizismus von Leuten wie Sanne im Vergleich geradezu greisenhaft wirkte. Jule verließ den Ach-so-komm-vorbei-Planeten und wurde Untermieter in Gerhards Das-ist-so-nicht-hinnehmbar-Universum. Hier war die Welt etwas, das beständig analysiert und kritisiert werden musste, ganz egal, ob es sich um Atomkraft handelte oder das Unterleutner Soziotop. Unter Gerhards Anleitung begann sie, Sannes Fatalismus als Gleichgültigkeit und die Coolness der Neunziger als Ausdruck fehlenden Verantwortungsbewusstseins zu begreifen. Das war ein netter Trick, um sich gegenüber einer ganzen Generation überlegen zu fühlen. In Jules Augen gaben Gerhard und sie ein romantisches Bild ab: eine junge Frau und ein zwanzig Jahre älterer Mann, dazu der radikale Ausstieg aus dem urbanen Berlin und die Rhetorik der Revolution – sie hatte es genossen, als Teil einer Zwei-Personen-Guerilla gegen den Strom zu schwimmen. Wenn sie jetzt auf die letzten Jahre zurückblickte, kam es ihr allerdings vor, als habe sie nicht gemeinsam mit Gerhard ihr Leben geändert, sondern sich auf eine Reise durch eine Landschaft aus immer schneller wechselnden Kulissen begeben. Ein Merkmal von Reisen bestand darin, dass sie eines Tages endeten.
Vor knapp zwei Stunden hatte Gerhard mit ungewohnter Lautstärke das Haus betreten, war über den Flur gepoltert, hatte auf der Suche nach Jule Türen geöffnet und wieder geschlossen, irgendetwas umgestoßen und schließlich ihren Namen gerufen. Jule war im Badezimmer und wechselte Sophie die Windel. Da sich Gerhard nicht am helllichten Tag betrank, musste etwas vorgefallen sein.
Er brüllte gerade zum x-ten Mal ihren Namen, als Jule den Flur betrat. Kaum hatte er sie bemerkt, begann er zu lachen. Ein fröhliches, vielleicht ein wenig übertriebenes Lachen, wie damals an der Uni, wenn der Dekan einen Witz gemacht hatte. Sein rechter Arm hing schwer herab und nahm an den Bewegungen des restlichen Körpers nicht teil. Jule sah die dunkle Substanz an seinen Fingern und wusste sofort, dass es Blut war. Keine Sekunde glaubte sie, dass es sich um sein eigenes handeln könnte.
Während Sophie in Jules Armen fröhlich gluckste und ihre Händchen nach Gerhard ausstreckte, wich Jule rückwärts über den Flur zurück. Gerhard redete und lachte, gestikulierte mit dem linken Arm, während der andere herabhing. Von dem, was er sagte, verstand sie nur Bruchstücke, kannte ihn aber gut genug, um den Rest zu erraten. In Gerhards Kopf hatte sich Schaller in das ultimative Böse verwandelt. Das Tier von nebenan stand jetzt für sämtliche Übel der Welt. Es war ein Ölkonzern, Atompolitik, Rüstungsindustrie und internationales Bankenwesen. Und er, Gerhard Fließ, hatte heute das Reden beendet und endlich zurückgeschlagen.
Jule stieß mit dem Rücken gegen die Haustür und schrie ihn an. Dass er verrückt geworden sei. Dass er den Verstand verloren habe.
Gerhard blieb stehen. Schlagartig verwandelte sich seine Begeisterung in Hilflosigkeit.
»Nicht doch, Liebes. Lass mich erklären.«
Sie schrie weiter. Dass er nicht wagen solle, sie anzufassen.
Seit sie ihn kannte, redete er von Verantwortung und Engagement. Das war es also, was er in letzter Konsequenz damit meinte. Aus dem gemeinsamen Versuch, der Welt etwas entgegenzusetzen, hatte er eine Gewaltorgie gemacht.
»Die verstehen hier keine andere Sprache, Liebes. Du hast doch gesagt, dass ich unser Zuhause verteidigen soll.«
Als sie begriff, dass er um Anerkennung bettelte und für seine schreckliche Tat auch noch gelobt werden wollte, wurde sie von Ekel erfasst. Fast konnte sie sehen, mindestens hören, wie die Kulissen fielen. Ein leises Rieseln im Hintergrund, das Knistern von sich ausbreitenden Rissen, dann das Fallen der ersten Steine.
»Hast du ihn umgebracht?«, fragte sie.
Gerhard lachte auf: »Ein Denkzettel, weiter nichts!«
»Verschwinde«, sagte Jule. »Wenn ich wiederkomme, bist du weg.«
Sie hatte Sophie an die Brust gepresst und war aus der Haustür geschlüpft, Gerhard und seine betroffene Miene im Flur zurücklassend. Das schwere Tor zu Schallers Hof war nur angelehnt gewesen. Jule war eingetreten und gleich wieder stehen geblieben. Die Landschaft aus Schrott hatte sie bislang immer nur vom Garten aus gesehen. Mittendrin zu stehen war ein seltsames Gefühl, fast als betrete man eine Photographie. Schaller lag unweit der Hebebühne am Boden, inmitten einer dunklen Pfütze. Als er den Kopf hob und etwas sagte, erschrak Jule dermaßen, dass sie sich umdrehte und zurück auf die Straße lief. Am ganzen Körper zitternd stand sie vor dem Tor, rief vom Handy den Krankenwagen, ohne ihren Namen zu nennen, und wartete am Straßenrand, bis das Blaulicht auf der Unterleutner Höhe zu kreisen begann. Dann öffnete sie beide Torflügel bis zum Anschlag und floh zurück ins Haus.
Im Flur hatte sie tief durchgeatmet. Von Gerhard keine Spur. Eine Weile hatte sie in der plötzlichen Stille gestanden und alles um sie herum absurd gefunden. Dann hatte sie Sanne angerufen und war auf den Dachboden gegangen, um den Rucksack zu holen.
Sie zog den letzten Reißverschluss zu und hob das Gepäckstück vom Küchentisch. Es sah genauso aus wie vor zehn Jahren, als sie es zum ersten Mal gepackt hatte; ein bisschen schmuddeliger vielleicht, aber ähnlich prall. Obwohl die Zeit drängte, weil die Polizei jederzeit auftauchen konnte, nahm sie ein Päckchen Zigaretten aus der Schublade, setzte sich an den Tisch und rauchte die erste seit fünfzehn Monaten. Während der Rauch in der stillen Luft zur Decke stieg, stellte sie sich vor, was der Rest des Tages bringen würde. Sie würde in Sannes kleiner Wohnung ankommen, deren Einrichtung von niemandem gestaltet, sondern einfach nur gewachsen war. Sie würden für Sophie ein Bettchen in irgendeinem alten Wäschekorb bauen, Nudeln mit Gorgonzola-Soße kochen und die halbe Nacht reden. Jule freute sich auf Berlin, wo sie sich fortbewegen konnte, ohne zu grüßen; wo immer alles woanders passierte, in der Nachbarwohnung, auf der anderen Straßenseite, in einem vorbeifahrenden Auto oder gleich am anderen Ende der Stadt. Wo sich in jeder Minute Furchtbares und Wundervolles ereignete, ohne dass sie das etwas anging. Wo Gewaltverbrechen nicht von ihrem Ehemann begangen wurden. Weil die Stadt niemandem gehörte, gehörte niemand der Stadt. Wenn das Verantwortungslosigkeit war, dann wollte Jule verantwortungslos werden. Sie kannte Menschen, die Freiheit dazu sagten.