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Sie drückte die Zigarette aus und dachte an Gerhards Gesicht. An den Ausdruck reinsten Glücks, wenn er sich über seine kleine Tochter beugte. Die Vorstellung schmerzte wie ein Magenkrampf. Sie würde sich eine ganze Weile verbieten müssen, auf diese Weise an ihn zu denken.

Aus dem Druckerschacht im Arbeitszimmer nahm sie ein Blatt Papier und schrieb mit dickem Filzstift »Berlin« darauf. Dann setzte sie Sophie in den Tragegurt, schulterte den Rucksack und öffnete die Haustür. Auf dem Nachbargrundstück war alles ruhig, der Krankenwagen schon abgefahren und die Polizei noch nicht eingetroffen. Jule kehrte dem Dorf den Rücken und ging die Unterleutner Landstraße hinauf. In den Zweigen der nach außen geneigten Birnbäume hingen kleine, steinharte Früchte. Diesmal würde sie nicht miterleben, wie sich die Birnen im September aufpumpten, immer weicher wurden und irgendwann in den Straßengraben fielen, wo sie verwesten. Als Jule den siebten Birnbaum passierte, hörte sie hinter sich Motorengeräusche. Sie drehte sich um und hob ihr Schild.

57 Franzen

Während er redete, fuhr er wie ferngesteuert, mit häufigen Spurwechseln, bediente die Lichthupe und überholte rechts, wenn das Hindernis nicht schnell genug reagierte. Dabei wandte er den Kopf zur Seite, um Linda anzusehen.

Guck nach vorn, dachte sie, wir sind auf der Autobahn.

Beide Hände hielt er oben auf dem Lenkrad, allerdings weniger mit Lenken als mit dem Ausführen von Gesten beschäftigt. Eine Hand fuhr in die Luft, ballte sich zur Faust, fiel auf das Steuer zurück, während die andere schon damit beschäftigt war, eine wedelnde Bewegung auszuführen, um eine prekäre Situation zu unterstreichen. Meiler war groß in Fahrt. Er beschleunigte auf die nächste Pointe zu, irgendeine Story aus seiner Firma, wie ein konkurrierender Anbieter aus den neuen Bundesländern versucht hatte, ihn auszutricksen.

Langsam begann sich Linda zu fragen, ob er betrunken war. Allein von dem gelungenen Geschäftsabschluss konnte die gute Laune nicht herrühren. Für einen wie Meiler waren ein paar Windräder doch nur Spielerei, ein neues Hobby, das darin bestand, sich als Grundstücksspekulant in Ostdeutschland zu versuchen. Für ihn stand nichts Existenzielles auf dem Spiel, kein Objekt 108, das saniert werden musste, kein Bergamotte, der ein Zuhause brauchte.

Eigentlich hätte Linda viel mehr Grund gehabt, sich zu freuen. In nur vier Wochen hatte sie es geschafft, die wichtigsten Zutaten für ihre Zukunft zu organisieren, vier Hektar Weideland hinter dem Haus, eine schriftliche Erlaubnis der Vogelschützer, dort Zäune zu bauen, eine Baugenehmigung sowie 50000 Euro für die Sanierung der Ställe. Aber irgendwie wollte sich keine Freude einstellen. Vielleicht ist es noch zu früh, dachte sie, vielleicht war alles ein bisschen viel in letzter Zeit. Manfred Gortz warnte in seinen Schriften vor der Leere nach dem Erreichen eines wichtigen Ziels. Dagegen half nur das sofortige Ansteuern der nächsten Etappe.

Momentan musste sie sich allerdings eingestehen, dass ihr die Zukunft eher Angst machte. Es gab so viel zu tun, manchmal glaubte Linda, dass die innere Anspannung sie zerreißen müsse, in tausend Stücke. Immerhin könnte dann jedes einzelne sofort mit der Arbeit anfangen wie eine Armee von kleinen Linda-Heinzelmännchen. Sie musste dringend mit dem Lackieren der abgezogenen Dielen beginnen, drei Anstriche auf 150 Quadratmetern, und während der Trockenzeiten durften die Räume nicht betreten werden. Sie brauchte einen Elektriker, der sämtliche Kabel neu verlegte, erst danach konnten der Putz ausgebessert und die Wände gestrichen werden, vorher war an das Aufstellen von Möbeln nicht zu denken. Vor allem musste sie vor dem Winter die Fenster im Erdgeschoss fertigkriegen, achtzehn Kastenfenster, bestehend aus jeweils vier Flügeln und zwei Oberlichtern, das machte 108 Rahmenteile, aus denen es winzige Nägel zu entfernen galt, um die Scheiben herausnehmen zu können. Danach das Holz sorgfältig abschleifen, zweimal streichen und neu einglasen, eine nicht mehr zu schätzende Summe von Handgriffen, die auch noch vorsichtig ausgeführt werden mussten, um nichts zu beschädigen. Zudem hatte Linda diese Woche fünf Kunden, für die sie insgesamt 400 Kilometer fahren würde. Freu dich über jede Herausforderung, sagte Gortz, aber es war nicht immer leicht, seinen Ratschlägen zu folgen.

Meiler hingegen wirkte, als hätte er soeben eine Verjüngungskur hinter sich gebracht. Wie den meisten Männern fehlte ihm jedes Gefühl dafür, wie er bei Zuhörern ankam. Er selbst fand sich offensichtlich beeindruckend, während Linda absolut kein Interesse mehr an ihm besaß, seit er die Verträge unterschrieben hatte. Sie wollte einfach nur nach Hause.

Dass Frederik sie in Berlin ausgesetzt hatte, war schlimm genug. Noch schlimmer war, dass ihr mit Sicherheit noch ein abendfüllender Streit bevorstand. Er machte sich Sorgen um sie und schien zu glauben, dass ihn seine Sorge zu jedem beliebigen Eingriff in ihr Leben berechtigte. Sie würde sich stundenlang gegen seine Vorwürfe verteidigen müssen, dazu zwei Flaschen Rotwein und am Ende Versöhnungssex; dann wäre es Mitternacht und an das Lackieren von Dielen nicht mehr zu denken. Stattdessen würde sie am nächsten Morgen um sechs mit schwerem Kopf aus den Federn kriechen, um nach Oranienburg zu ihrem ersten Kunden zu fahren, während Frederik gemütlich seinen Rausch ausschlief.

Stets behauptete er, voll »hinter ihr« zu stehen, dabei hätte sie jemanden an ihrer Seite gebraucht. Frederik kam in Unterleuten vorbei, wenn es ihm gefiel, verbrachte entspannte Tage auf dem Land und kritisierte besorgt ihren angeblichen Fanatismus, wenn sie nervös wurde, weil er sie von der Arbeit abhielt. »Das ist deine Entscheidung« war seine Lieblingsantwort auf die Frage nach der Farbe für die Fenster oder nach dem richtigen Dielenlack, und je mehr Entscheidungen sie traf, desto mehr war das ihr Haus, ihr Auto, ihr Dorf. Beim nächsten Streit musste sie sich dann wieder vorhalten lassen, dass sie »ich« und nicht »wir« sagte, wenn es um ihre Projekte ging.

Dass sich der Starke vor den Schwachen rechtfertigen soll, sagte Manfred Gortz, ist der faule Kern der demokratischen Idee.

Frederik scheute nicht nur Risiko und Verantwortung, er scheute jede Form von Entscheidung. Wie bei den meisten Versagern beruhte sein Scheitern nicht auf Ungerechtigkeit, sondern auf Folgerichtigkeit. Wer nichts wollte, bekam auch nichts. Ohne Zweifel war die Idee mit dem digitalen Naturschutzgebiet grandios. Aber es stand jetzt schon fest, dass Frederik niemals etwas daraus machen würde. Er würde tausend Gründe finden, die Verwirklichung des Plans immer weiter vor sich herzuschieben. Seine unglückliche Weigerung, bei Weirdo einzusteigen, hatte den Grundton für sein ganzes Leben vorgegeben.

Je länger sie grübelte, desto inständiger hoffte sie, dass Frederik nicht nach Unterleuten, sondern zum Teufel gefahren war. In der aktuellen Stimmung brauchte sie harte Arbeit bis nach Sonnenuntergang und keinen Beziehungsmist. Es war immer dasselbe: Kaum gab es Schwierigkeiten mit Frederik, empfand sie ihn nur noch als Belastung. Von einer Minute zur anderen wurde er zum Störfaktor, der ihr die Zeit stahl und sie von Dingen abhielt, die sie tatsächlich tun wollte. Mit einem Mal spürte sie ihm gegenüber keine Liebe mehr, nicht einmal Freundschaft oder Zuneigung, sondern nur noch Überdruss sowie den Wunsch, sich von ihm zu befreien. Ganz automatisch begann ihr Gehirn die Möglichkeiten durchzuspielen: Wie abhängig war sie von seinem Geld? Wäre sie in der Lage, den Kredit für Objekt 108 ohne ihn zu stemmen? Würde er es übers Herz bringen, sie zum Verkauf des Hauses zu zwingen? Konnte sie noch härter arbeiten, noch weniger schlafen, genug verdienen, um ihren Traum allein zu verwirklichen? Sollte sie eine Trennung auf Probe vorschlagen und herausfinden, ob es funktionierte?

Mehr als einmal hatte Frederik ihr vorgeworfen, sie knüpfe Liebe an die Bedingung reibungslosen Funktionierens. Wenn sich ein Mensch nicht in ihrem Sinne verhalte, sortiere sie ihn aus wie ein defektes Gerät. Durch diese unausgesprochene Drohung bringe sie andere dazu, ihrem Willen zu folgen, denn niemand wolle verstoßen werden, nur weil er die Küche nicht aufgeräumt oder einem Grundstücksverkauf nicht zugestimmt habe.